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Ansichten über die Psychoanalyse

Originalvorträge von Alexander Mitscherlich

Autor: Alexander Mitscherlich
Sprecher: Alexander Mitscherlich
ca. 320 Minuten

Alexander Harbord Mitscherlich, * 20. September 1908 in München, † 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main, war ein deutscher Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller. Mitscherlich ist Begründer einer von den Gedanken der Psychoanalyse getragenen psychosomatischen Medizin. Bekannt wurde er vor allem durch sein zusammen mit seiner Frau Margarete Mitscherlich (geb. 1917) veröffentlichtes Buch „Die Unfähigkeit zu trauern; Grundlagen kollektiven Verhaltens“, in der die Schwierigkeiten der deutschen Vergangenheitsbewältigung psychoanalytisch gedeutet werden.

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CD 1 | Der Standort der Psychoanalyse


Sendung: 09.04.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 28:52

Inhalt: Es gibt Erscheinungen und Wirklichkeiten, die einen bedeutenden Einfluss in unserem Leben spielen, sich jedoch nicht mit den Methoden des materialistischen Positivismus überprüfen lassen. Die Psychoanalyse ist eine Antwort auf solche Fragen, die aus dem Bereich Psychologie kommen. Sie hat mit den Problemen ihrer Zeit immer in reziproker Beziehung gestanden, sich mit ihnen auseinandergesetzt und von ihnen anregen lassen. Die Psychoanalyse gehört zum Grundbestand des europäischen Humanismus, doch diese Grundstruktur stellt keinen für immer gesicherten Wert dar. Psychoanalyse ist ein Prozess der Wahrnehmungserweiterung und -korrektur. Sie ist eine systematische Methode der Introspektion. Durch Introspektion wird versucht, auf anderem Weg als dem bewusst rationalen Motivationen zu erfahren, Handlungs- und Erinnerungszusammenhänge zu rekonstruieren, Phantasien in ihrer Herkunft zu begreifen und seelische Blockaden abzubauen. Die Verständigung zwischen Analytiker und Patient beruht auf einem Vertrauensverhältnis, das Schutz für eine unkorrigierte Selbstwahrnehmung bietet. Die Bemühungen des Analytikers gehen dahin, eine Kommunikation herzustellen, die den Patienten aus der sklavischen Abhängigkeit eines vorgegebenen Rollenspiels befreit, nicht, damit er zur Vergeltung ausholen kann, sondern um sich aufgeklärteren Idealen wie denen der Rücksichtnahme, der Einfühlung und des Verstehens zu verpflichten.

CD 1 | Normal – abnorm


Sendung: 16.04.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 29:27

Inhalt: Die Normalität, mit der es der Psychoanalytiker heute zu tun bekommt, ist eine von der traditionsgebundenen extrem verschiedene Lebensform. Ohne dass unsere Gesellschaften dafür gerüstet wären, verlangen sie von ihren Mitgliedern Anpassungsleistungen bis ins hohe Alter. Normalität, wie sie der Psychoanalytiker als Richtschnur für sein Urteil sucht, hängt hingegen mit der Ich-Entwicklung zusammen, dem Verhältnis, mit dem sich das Ich den Triebforderungen gegenüber durchzusetzen vermag, ohne sie dabei ernsthaft zu schädigen. Diese Ich-Autonomie entscheidet letztlich auch darüber, ob sich das Individuum den Regelansprüchen seiner Gesellschaft gegenüber behauptet oder nicht. Dabei geht es immer um Fragen der Anpassung, die durch die geforderte Entwicklung zur Persönlichkeit am Ausgang der bürgerlichen Epoche einen negativen Beiklang erworben hat. Anpassung wird in die Nähe von Opportunismus und Charakterlosigkeit gerückt. In der Psychoanalyse wird sie jedoch als der notwendige Vorgang begriffen, mit dem das Individuum seinen Platz in der Sozialgemeinschaft erwirbt, um von dort aus seinerseits Anpassung anderer verlangen zu können.

CD 2 | Das Unbewusste


Sendung: 23.04.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 29:01

Inhalt: Freud sah, dass die bewusste und die unbewusste Seelentätigkeit unterschiedliche Formen der Organisation aufweisen. Dabei unterschied er das bewusstseinsfähige vom bewusstseinsunfähigen Unbewussten. Bewusstseinsinhalte können durch einen Energieaufwand ins Unbewusste verdrängt werden. Für die Vorgänge im Unbewussten gelten jedoch keine logischen Denkgesetze. Es ist ein besonderer seelischer Ort, den man sich nicht wie ein zweites Bewusstsein vorstellen muss. Es ist der dunkle unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit. Das wenige, was wir vom Unbewussten verstehen, wurde durch das Studium der Traumarbeit und der neurotischen Symptome herausgearbeitet und hat vor allem negativen Charakter. Wir verknüpfen damit in erster Linie die unbewussten Aktivitäten der Triebe. Für dieses scheinbar unkontrolliert brodelnde Chaos besitzen wir kein Passepartout. Dies gilt jedoch nicht für die Rückkehr von unbewusst gewordenen Konflikten, die durch eine Zensur verhindert wird. Die Zensur ist ein Vorgang, der ständig Energie verbraucht und sich erneuern muss. Im Unterschied zum Vergessenen sind solche verdrängten Inhalte immer wichtig für das Individuum. Wo Es war, soll Ich werden, und auch bleiben.

CD 2 | Psychoanalyse als Prozess (I)


Sendung Teil I: 30.04.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 26:29

Inhalt: Psychoanalyse vollzieht sich als Prozess. Dieser Prozess ist durch einen besonders intensiven Austausch von Wahrnehmung der äußeren und inneren Realität gekennzeichnet. Wahrnehmungskorrektur und -erweiterung sowohl nach innen als auch nach außen sind technische Grundleistungen der Analyse, doch sind sie beide nicht beliebig erreichbar und ausdehnbar. Unbewusste Widerstände schränken sie ein. Unter dem Druck emotioneller Spannung lassen sich Teile der Realität nicht ungestört wahrnehmen. Zudem kann uns das Bewusstsein offenbar nichts über die in ihm auftauchenden Inhalte aussagen. Die Nutzung der absichtslosen Einfälle, der freien Assoziation, durchlöchert jedoch die sonst geschlossene Abwehr des Ich gegenüber unbewussten Inhalten. Im Laufe dieses Prozesses wird uns die Rolle, die wir vor uns selbst und anderen spielen, fragwürdig. Psychoanalyse, ein sich tendenziell endlos fortsetzender Prozess, vergrößert den Spielraum des Individuums, um eine alternative Einstellung zu sich einnehmen zu können. Der Analytiker muss neutral wie ein Spiegel bleiben, jedoch nicht gefühllos, denn Empathie spielt im psychoanalytischen Prozess die entscheidende Rolle. Der Analytiker braucht Einfühlungsvermögen und Abstand zugleich. Er ähnelt dem Archäologen, nur dass er mit einem lebenden Objekt arbeitet, in dessen tiefere Schichten er eindringt. Es gibt dabei keine generell richtigen Deutungen, sondern nur solche, die sich an die momentane individuelle Lebenssituation anschließen. Der Analytiker möchte die bewussten Ich-Kräfte des Patienten stärken, seine Angst vor irrationalen Triebregungen und Schuldgefühlen beschwichtigen und sie dadurch der Reflexion zugänglich machen. Der Prozess beruht auf der Dreiheit von Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, wobei die Psychoanalyse bis heute an der hermeneutischen Deutungsmethode festhält.

CD 3 | Psychoanalyse als Prozess (II)


Sendung Teil II: 07.05.1975, SDR Studio: Heidelberg Laufzeit: 28:59

CD 3 | Übertragung und Gegenübertragung


Sendung: 14.05.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 30:01

Inhalt: Beim psychischen Vorgang der Übertragung müssen wir zwischen einem bewussten und einem unbewussten Teil unterscheiden. Normalerweise erhält das Erinnern von Erlebnissen und Erfahrungen einen positiven Übertragungsaspekt. Was sich allerdings unter pathologischen Entwicklungsbedingungen herstellt, sind Übertragungsbeziehungen unkontrollierbarer weil unbewusster Art. Hier läuft Übertragung nicht in Lernvorgänge aus, die eine Weiterentwicklung bewirken würden, vielmehr setzt sich ein Angstaffekt durch, der jede Weiterentwicklung ignoriert und die Wiederkehr des Gleichen zu erzwingen scheint. So erwarten wir von einem Partner der Gegenwart ähnliches Verhalten, wie wir es in der Kindheit mit einer damals wichtigen Bezugsperson erlebt haben. Neben der ständig sich vollziehenden normalen Übertragung gibt es jedoch auch eine pathologische Übertragung, die sich durch das Unbewusstbleiben des Vorgangs und durch unbeherrschbar heftige oder auffällig fehlende Handlungsimpulse auszeichnet. Der Patient führt durch den Wiederholungszwang ein Stück Lebensgeschichte vor, über das er sonst nur recht mangelhaft Auskunft geben könnte. Es bedarf deshalb der sorgfältigen psychoanalytischen Ausbildung des Therapeuten, um ihn mit seinen eigenen Komplexen bekannt zu machen, so dass er in der Lage ist, Übertragungsverliebtheiten, Omnipotenzphantasien und ähnliches an sich wahrzunehmen und diese Gefühle auf die ihnen angemessenen Dimensionen zu reduzieren.

CD 4 | Trieblehre – Libido


Sendung: 21.05.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 28:05

Inhalt: Nach Freuds Vorstellungen müssen vor allem zwei wichtige Voraussetzungen erfüllt sein, um einen Trieb als solchen zu charakterisieren: 1. Die Konstanz der Wirkung; dem Trieb haftet ein rhythmisches Geschehen an, mit wachsender Spannung steigt die Unlust, die nach der Entspannung in das Lustgefühl einmündet. 2. Der Trieb stammt von Reizquellen aus dem Inneren des Organismus, womit er sich vom Reiz unterscheidet, der durch einzelne von außen kommende Regungen hergestellt wird. Der Trieb ist somit eine Arbeitsanforderung des Organischen an das Psychische. Die relative Leichtigkeit, mit der Triebobjekte ausgetauscht oder ersetzt werden können, gilt als eine kompensatorische Leistung, die zur Konfliktbewältigung dient. Dabei kann auch unser Selbst zu einem Objekt der Libido werden, es handelt sich um Ich-Libido oder narzisstische Libido. Die kulturellen Errungenschaften sind der Unterdrückung der Triebe zu verdanken, doch es ist zu fragen, ob der Nutzen der Kultur, durch den Schaden, den sie erreicht hat, nicht aufgehoben wird.

CD 4 | Trieblehre – Aggression


Sendung: 28.05.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 28:17

Inhalt: Die funktionelle Verschlungenheit der beiden Grundtriebe in den Anfängen des Individuums macht es schwer, Aggression von den prägenitalen Stufen der Sexualität zu trennen. Aggression dient in den ersten Lebensjahren der Befriedigung der libidinösen Strebungen. Solange keine klare Abgrenzung des Ich von der Umwelt und keine Du-Erfahrung existiert, ist die Aggression ungezügelt und rücksichtslos. Wie bei der Libido prägenitale von genitaler Sexualität unterschieden wird, sollte bei der Aggression ungekonnte von gekonnter Aggression getrennt werden, wobei sich in der Entwicklung des Kindes die Aggression durch eine entsprechende Kontrolle von der ungekonnten zur gekonnten verschiebt. Regressive Akte ließen sich danach als nicht-sachgerechte und nicht-zielgerichtete Handlungen begreifen.
Zuerst richtet sich der Todestrieb gegen sich selbst und wird erst im Laufe der Entwicklung nach außen gelenkt. Aggression und Sexualität lassen sich nicht in reiner Form untersuchen. Die beiden Grundtriebe bilden vereinte Kräfte oder handeln gegeneinander, und durch diese Kombinationen entstehen die Phänomene des Lebens. Ohne Beimengung von Aggression erscheinen die sexuellen Triebe zur Erreichung ihrer Ziele unfähig. Umgekehrt mildert die Beimischung der Libido die aggressiven Elemente. Die Aufgabe der Zukunft liegt nicht darin, sich mit der Frage zu verzetteln, ob Aggression angeboren ist oder nicht, sondern vielmehr zu untersuchen, wie sie in den verschiedenen Lebensphasen des Menschen aussieht. Dabei ist es zweifelhaft, ob Aggression ein tatsächlicher Trieb ist, da ihm, wie etwa der Libido, die innere Reizung durch ein Organ fehlt.

CD 5 | Anwendung der Psychoanalyse – Psychosomatische Medizin


Sendung: 04.06.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 27:24

Inhalt: Es gibt zwei Formen der psychosomatischen Medizin, die wenig miteinander zu tun haben. Die eine folgt den Experimentalmethoden der an der Physik orientierten Naturwissenschaft und ist als Pharmako-Psychologie und Stressforschung zu bezeichnen. Die andere versucht, eine Naturwissenschaft des Menschen als erlebendes Subjekt zu entwickeln. Sie bedient sich dabei hermeneutischer Methoden. Diese verstehende Psychosomatik ist eng mit sozialen Faktoren verknüpft, zum Beispiel dem Verständnis des Arztes. 1949 nannte Viktor von Weizsäcker drei bis heute gültige Thesen: 1. Die psychosomatische Medizin muss eine tiefenpsychologische sein. 2. Körper und Seele sind keine Einheit, aber sie gehen miteinander um. 3. Die recht verstandene psychosomatische Medizin hat einen umstürzenden Charakter. Die psychoanalytische Methode hat sich bei der Suche nach der Herkunft psychosomatischer Krankheiten bewährt. Auf dem Erfahrungshintergrund psychosomatischer Forschung wurde ein Modell der zweiphasigen Abwehr bei der Entstehung psychosomatischer Krankheiten entwickelt. Zuerst wird vom Patienten der Versuch unternommen, seinen Konflikt mit Hilfe neurotischer Symptombildung zu bewältigen. Reicht diese nicht aus, folgt die körperliche Symptombildung. Chronische psychosomatische Krankheiten entwickeln sich immer dann, wenn die Versuche des Individuums, Konflikte abzuwehren, mit den gewohnten psychischen Mitteln nicht mehr gelingen. Die dabei in der Phantasie erstrebte Rückkehr zu einer infantilen Körpersprache der Affekte macht krank, da sie nicht gelingen kann.

CD 5 | Ich-Psychologie


Sendung: 11.06.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 31:03

Inhalt: Das Ich wird von den beiden Grundtrieben Libido und Aggression, aber auch ihrem primären und sekundären Ausdruck bedrängt. Der Primärvorgang beherrscht dabei das Es, während der Sekundärvorgang Abwehrmechanismen im Ich und Über-Ich unterworfen ist. Das unreife Ich wird vor allem von Primärprozessen beherrscht, da eine Abgrenzung zwischen Ich und Nicht-Ich noch nicht stattgefunden hat. Ich-Reifung ist ein Geschehen, das von Beginn des Lebens an in verschiedensten sozialen Verschränkungen geschieht. Schließlich besitzt unser Ich die integrative Fähigkeit, aus Identifikation ein neues Persönlichkeitsprofil entstehen zu lassen. Wenn aus diesem permanenten Wandel ein Gefühl innerer Kontinuität geworden ist, kann man von Ich-Identität sprechen. Wir haben es mit einem Doppelvorgang von Lernen und Schöpfen zu tun. Die Ich-Identität eines Menschen wird stark belastet, wenn die soziale Realität in raschen Schritten enttabuiert wird, ohne dass für die unausweichlichen Bereiche des menschlichen Lebens neue Regeln gefunden werden. Freud hat einmal das Ich als armes Ding bezeichnet, das von der Außenwelt, der Libido, dem Es und von der Strenge des Über-Ich bedroht wird.
Es besitzt Anlagekerne, kann sich entwickeln und reifen, aber auch spalten oder mit den moralischen Aufsichtsinstitutionen der Gesellschaft als Über-Ich verbinden.

CD 6 | Massenpsychologie


Sendung: 18.06.1975, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Johannes Schlemmer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 29:54

Inhalt: Es gibt zwei Grundtypen von Massen: 1. Massen, die starke Affekte miteinander teilen, etwa die massenhafte Identifizierung mit einer Führerfigur. 2. Massen als Zusammenfassungen unübersehbar vieler Menschen in Institutionen, die nicht durch eine gemeinsame Gemütsbewegung verbunden sind, sondern allein durch gesellschaftliche Zusammenhänge, wie etwa der Arbeit. Während sich die Affekte steigern, sinkt die individuelle Intelligenzleistung in der Masse ab. Der psychische Oberbau wird abgetragen und das gemeinsame psychische Fundament tritt zu Tage. Massenbildung findet durch Identifikation statt. Freud unterschied dabei drei Formen der Identifizierung: 1. Identifizierung als frühste Form der Gefühlsbildung, 2. Identifizierung als Ersatz für eine aufgegebene Objektbindung, 3. Identifizierung, die vorübergehend mit Personen eingegangen wird, bei denen man Gemeinsamkeiten mit eigenen Wünschen und Idealen glaubt feststellen zu können. Wenn die Person desto gesicherter erscheint, je kritikloser sie die Meinung der Massenautorität übernimmt, wird die Regression unaufhaltsam. Die Identifikation der Massenmitglieder untereinander bewirkt den Zusammenhalt, das Führerbild wird dabei an die Stelle des Über-Ich gesetzt. Dadurch wird der Einfluss des Massenführers auf seine Anhänger noch einmal gesteigert. Er ist kein Hilfs-Ich, sondern ein Teil des Ich, der unbedingten Gehorsam fordern darf. Eine Masse wird also von Menschen geformt, die ein gemeinsames, externalisiertes Über-Ich gebildet haben.
Dieses Über-Ich kann ältere Teile des Ich überrumpeln. Das Massenindividuum besteht aus Moment-Persönlichkeiten mit eingeschränkter Selbst- und Realitätskontrolle.

CD 6 | Proklamierte und praktizierte Toleranz


Sendung: 05.12.1963, SDR Studio: Heidelberg Redakteur: Horst Krautkrämer
Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 27:22

Inhalt: Toleranz ist ein selten und spät gezeigtes Sozialverhalten, da Intoleranz auf der Verteidigung von Vorrechten fußt, die Lust versprechen. Auch der Intolerante denkt und vermeint sogar kritisch und beweiskräftig zu denken, aber das Bewusstsein von uns selbst wird oft zum Handlager unserer Triebbedürfnisse erniedrigt, die es glaubte längst überwunden zu haben. Praktizierte Toleranz ist nicht unvernünftige Duldung, sondern Vereinigung von Scharfsinn und Großmut. Toleranz als Misstrauen gegen das eigene Ideal, das Nietzsche noch kritisierte, ist tatsächlich Ausdruck des eigenen Scharfsinns. Jener Wesensanteil der Person, der nur unter äußerem Druck angepasst sozial konform sich verhält, muss sich ressentimenthaft stabilisieren. Je mehr uns dabei unversöhnliche Unterdrückung in unserer eigenen Geschichte widerfahren ist, desto weniger Neigung und Befähigung zur Toleranz konnte sich entwickeln. Es war der Irrtum der Aufklärung, zu glauben, Toleranz ließe sich allein aus einem Beweis der Vernunft herleiten und proklamieren. Toleranz hat ältere Feinde, nicht nur in der Intoleranz der anderen, sondern auch in dem Hass über die Verzichte, die wir nicht verzeihen können. Weil wir über diese Schwelle nicht hinwegkommen, geht es so langsam voran mit der Toleranz in der Welt.

© Produktionen des Südwestrundfunks 1963/1975/2008
Bookletredaktion: Frank Witzel
© Quartino GmbH, München 2008