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Der Mensch in einer sozialisierten Welt

Originalvorträge von Herbert Marcuse

Autor: Herbert Marcuse
Sprecher: Herbert Marcuse
ca. 200 Minuten

Herbert Marcuse * 19. Juli 1898 in Berlin, † 29. Juli 1979 in Starnberg; war ein deutsch-amerikanischer Soziologe und Philosoph. Seine Bücher „Triebstruktur und Gesellschaft“ (1955), „Der eindimensionale Mensch“ (1964), sowie die „Schriften zur Repressiven Toleranz“ (1965) gehören zu den wichtigsten Büchern der Kritischen Theorie und zählten zu den Standardwerken der Studentenbewegung. Marcuse teilt darin jedoch nicht den Pessimismus der anderen Vertreter der Kritischen Theorie wie Horkheimer und Adorno, die die gesellschaftlichen Missstände zwar kritisieren, aber keine konkreten Lösungsansätze anbieten.

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CD 1 | Das Salzburger Humanismusgespräch


Sendung: 14.09.1965, BR Technik: Luko Laufzeit: 42:23

Inhalt: Humanismus war ursprünglich die klassische Bildung der Persönlichkeit und in diesem Zusammenhang anti-klerikal und anti-autoritär. Dieser Humanismus blieb jedoch die Ideologie einer Elite und konnte sich nur sehr langsam mit der Idee der Gleichheit des Menschen verbinden. Weder die englische noch die französische Revolution waren humanistische Strömungen. Für Marx kommt der Humanismus nach und nicht vor der Revolution, die Revolution selbst ist humanistisch, insofern sie die Ausbeutung abschafft. In der Marxschen Konzeption des Humanismus müssen die humanistischen Kräfte vor der Entwicklung des Humanismus vorhanden sein, die Negation des Bestehenden muss ein Teil der Wirklichkeit dieses Bestehenden sein. Der Begriff der entfremdeten sowie der nicht-entfremdeten Arbeit wird fragwürdig vor dem Gespenst der Abschaffung von Arbeit. Die Gesellschaft beruht auf der Arbeitsdisziplin, sobald diese keine Notwendigkeit mehr ist, scheint ihre Basis selbst gefährdet. Die Mobilisierung gegen die Abschaffung der Arbeit hat zu einer geschlossenen Gesellschaft geführt, in der es nur eine quantitative Ausdehnung gibt: immer mehr vom selben, ohne neue Formen der Existenz. In dieser geschlossenen Gesellschaft kommt es zur Gleichschaltung jeder Opposition und einer Integrierung der Gegensätze. Selbst die Triebstruktur des Individuums wird manipuliert und verändert. In dieser geschlossenen Gesellschaft existiert ein Menschentypus, der nicht mehr Nein sagen kann oder will, dessen Nein selbst noch affirmativ ist. Unmöglichkeit des Widerspruchs und der Transzendenz, nicht nur in der Praxis, sondern auch im Denken und Fühlen. Die geschlossene Gesellschaft ist eine totale Gesellschaft, in der Wachstum die Unfreiheit reproduziert. Die steigende Produktivität wird nicht zur Befriedung des Kampfes ums Dasein verwendet, sondern zu dessen Intensivierung. Diese geschlossene Gesellschaft ist gleichzeitig jedoch die offenste Gesellschaft, die es je gegeben hat, da das Individuum weder innerlich noch äußerlich Privatheit hat, denn es gibt keinen Raum mehr, wo der Mensch noch bei sich sein kann. Selbst das Unbewusste des Menschen wird in Verwaltung genommen und manipuliert. Der Humanismus ist notwendiger denn je. Als befreiender Humanismus muss er die Idee des spielenden Menschen und eine Umkehrung der Produktivität fördern. Dabei sind der Abbau aller destruktiven und parasitären Produktionsweisen, der Neubau der Städte, die Wiederherstellung der Natur und die Einschränkung des Bevölkerungswachstums notwendig, damit sich eine neue Struktur entwickeln kann, ohne die eine humane Gesellschaft nicht denkbar ist.
(siehe auch: Herbert Marcuse, Der Humanismus in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, in: Die erschreckende Zivilisation, Salzburger Humanismusgespräche, Oskar Schatz (Hg.), Europa Verlag, 1970, S. 15-35)

CD 2 | Der Mensch in einer sozialisierten Welt


Aufnahme: 03.10.1966, BR Technik: Schmitt Laufzeit: 47:13

Inhalt: Die Anthropologie definierte das Leben als Mühsal und Entfremdung, als Kampf ums Dasein, organisiert vom Leistungsprinzip. Ruhe und Transzendenz waren reserviert für den Moment nach der Arbeit oder nach dem Leben selbst. Der Gegenentwurf des Materialismus blieb ebenfalls im Bann der unabdingbaren Produktivität verhaftet, denn auch hier erschien Freiheit nur auf der Basis von Arbeit. Dagegen wäre als Möglichkeit zu setzen: Abbau eines gesteuerten Systems der Bedürfnisse und Freilegung der in diesem System unterdrückten und verdrängten wirklichen Bedürfnisse. Fortschritt erscheint allein möglich als Umkehr. Auf der gegenwärtigen Stufe ist Befreiung nur vorstellbar als absolute Weigerung, die Produktivität des bestehenden Apparates weiterzuentwickeln, bevor nicht die materielle und geistige Armut in globalem Maßstab beseitigt und die von der Herrschaft angestachelte Aggression des Menschen überwunden ist. Dies erfordert keine Erweiterung, sondern einen Umbau des gesellschaftlichen Apparates. Mit einer Trennung von Arbeitsleistung und Einkommen wäre die Befriedigung der Bedürfnisse nicht länger an die Arbeitsleistung gebunden und von ihr abhängig. Hier entsteht allerdings ein Problem, da die Herrschaft nicht automatisch mit beseitigt wird. Die Verwaltung einer solchen Gesellschaft würde eine über jede Rechtfertigung erhabene Macht ausüben können, ohne die aus der Arbeit erwachsene Opposition. Die Befriedigung der Bedürfnisse, die nach der Marxschen Theorie nur ein Nebenprodukt des Produktionsprozesses ist, tritt heute längst in den Produktionsprozess selbst ein. Die Bedürfnisse selbst werden produziert und damit wird die Triebstruktur der Individuen gesteuert und geformt. Gleichzeitig wird der Sexualtrieb durch die psychoanalytisch geschulte Werbeindustrie verwaltet. Sexuelle Tabus werden aufgehoben, die Gesellschaft gibt selbst Modelle vor und beseitigt den antisozialen und gesellschaftlich nicht konformen Charakter der Sexualität. Die Gesellschaft, die eine solche Befriedigung fördert und erlaubt, wird damit selbst zum Tabu. Der neue Mensch wäre damit die Negation des Übermenschen, die Negation alles Heroischen, Starken, Dynamischen, Kämpfenden und Sich-Bewährenden, ein totaler Widerspruch gegen die herrschenden Werte.

CD 3 | Transformation des Kapitalismus


Sendung: 06.10.1965, SWF Aufnahme: 12.08.1965 Aufnahmeort: Wohnung Adorno
Gespräch: Helge Pross und Theodor W. Adorno Laufzeit: 58:02

Inhalt: Die Termini Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus sind strukturell gemeint und nicht als chronologische Bestimmungen. Frühkapitalismus ist noch nicht ausgeprägt gegenüber der Landwirtschaft, Hochkapitalismus gekennzeichnet durch Einzelunternehmen und vielfältig verstreutes Eigentum, während sich im Spätkapitalismus eine Konzentration bereits vollzogen hat. Die Phasen sind allerdings nicht umkehrbar. Gleichzeitig ist es schwer zu bestimmen, wohin sich der Kapitalismus entwickelt. Die Krisen- und Zusammenbruchstheorie von Marx mit seinem mathematischen Modell stößt auf die Irrationalität des tatsächlichen kapitalistischen Systems, durch die es stabilisiert wird. Gesellschaftstheorie in prognostische Aussagen zu übersetzen, besitzt etwas Problematisches, da rationale Aussagen über ein irrationales System nicht zu machen sind. Tendenzen allerdings sind auszumachen. Automatisierung, friedliche Koexistenz von sozialistischen und kapitalistischen Staaten, die Entwicklung der Länder der dritten Welt sind zwar vor allem systemfremde Faktoren, die jedoch dialektisch auf das kapitalistische System einwirken. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die übrige Welt von dem bestimmt wird, was im Kapitalismus vorgeht, und ob nicht gerade die Entwicklungsländer neue Chancen gegenüber dem Kapitalismus haben, obwohl sie als Absatzräume immer auch schon Teil des Kapitalismus waren. Der Begriff Kapitalismus wird heute gern durch den Begriff Industrialisierung ersetzt, wodurch der wesentliche Konflikt, der sich zwischen Produktivkräften und Verhältnissen der Produktion abspielt, unterschlagen wird. Der alte Sprengstoff des Kapitalismus, die Klassengegensätze, existiert jedoch nach wie vor. Technischer Fortschritt ist dabei Quantität, die nie in Qualität umschlägt, da die Produktionsverhältnisse einen gewissen Rahmen nicht überschreiten. Die Tatsache, dass die Ausbeutung angenehmer für große Teile der Bevölkerung wurde, ändert nichts an ihrem faktischen Fortbestehen. Der Kampf um das Dasein wird sogar intensiviert. Gewonnene Zeit wird in Verwaltung genommen. Ein revolutionäres Potential, das in einer Klasse vertreten ist, die in der Lage wäre, die Gesellschaft zu verändern, ist nicht vorhanden. Allerdings entwickelt sich unter den Intellektuellen eine Politisierung, weshalb sie auch gezielt diffamiert werden. Der totalen Integration der Menschheit in eine Konsumgemeinschaft, die allerdings immer kurz davor ist, sich gegenseitig in die Luft zu sprengen, könnte nur das Bewusstsein einer Menschheit als mündig werdendes Subjekt gewachsen sein. Allerdings tun die Verblendungsmechanismen alles dazu, gerade dieses Bewusstsein zu verdrängen, um damit neue Bedürfnisse, wie etwa das nach Frieden, zu verhindern. Wir befinden uns im Wesentlichen wieder in der Situation des 18. Jahrhunderts. Somit ist Aufklärung zu einer Frage des nackten Überlebens der Menschheit geworden.

CD 4 | Gespräch mit Herbert Marcuse


Aufnahme: 11.11.1976, BR Gesprächspartner: Ivo Frenzel, Willy Hochkeppel
Redakteurin: Dr. Gustava Mösler Aufnahmeleitung: Rühl Technik: Weichselbaum
Laufzeit: 51:55

Inhalt: Neue Lebensqualität heißt radikale Veränderung der Richtung im Produktionsprozess, Befriedigung von transmateriellen Bedürfnissen, neue Moral, neue Sinnlichkeit, neue Formen von Genuss. Dies mag ein Ideal sein, das aus der bürgerlichen Tradition kommt, wie in gewissem Sinne der Marxismus auch, was nicht gegen dieses Ideal spricht, da ein Umschlag von Quantität in Qualität stattfindet. Dieses neue Leben ist natürlich nur möglich, nachdem die globale Armut abgeschafft ist. Der Begriff der Gewalt muss dabei als Korrelat den Begriff der Gegengewalt haben, denn die Gewalt, die von einer herrschenden terroristischen Gruppe ausgeht, ist eine andere als die Abwehr dieser Gewalt. Selbst bei Marxisten tritt Kant immer mehr an die Seite Hegels, aber auch Husserl und die ursprüngliche Phänomenologie haben immer noch ihre Bedeutung, weil hier der Versuch vorliegt, das Denken zu befreien. Heidegger hingegen hat gelehrt, wie ein Text zu lesen ist: Wort für Wort, was eine emanzipatorische Wirkung besaß. Allerdings gibt es bei Heidegger keine Sexualität, libidinöse und sinnliche Elemente fehlen völlig. „Sein und Zeit“ lebt in einer Sphäre nachtgrauer Abstraktion, die beängstigend ist. Zudem stellt Heidegger beständig Fragen, die er nicht beantwortet, und vielleicht stimmen da eben die Fragen nicht. Abstoßend am Existentialismus ist besonders die Abstraktion von den heute existentiell entscheidenden Sachverhalten, vorwiegend also den sozialen und politischen Notwendigkeiten. Im Marxismus hingegen kommt das individuelle und konkrete Subjekt zu kurz, die Betonung liegt auf der Masse, womit einige der wirklich wesentlichsten Belange der menschlichen Existenz auf das Gebiet der Ideologie abgeschoben werden. Der Einbau und die Betonung des Subjekts als dem der politischen Veränderung ist eine der entscheidenden Errungenschaften der sechziger Jahre. Der Begriff Utopie ist jedoch inzwischen Propaganda von Seiten des Bestehenden her und in repressivem Sinn ideologisch. Die Kritische Theorie und der Marxismus wollten zeigen, dass solche utopischen Möglichkeiten und Tendenzen in der Gesellschaft real vorhanden sind. Der Philosoph hat nach wie vor die Aufgabe, dieses Potential zu definieren und seine Realisierung aufrechtzuerhalten. Die Verantwortung besteht darin, nicht zu predigen, sondern auf Wege hinzuweisen, einen neuen Faschismus aufzuhalten oder gar zu vermeiden.

© Produktionen des Bayerischen Rundfunks 1965/1966/1976/2008
in Lizenz der BRW-Service GmbH
© Produktionen des Südwestrundfunks 1965/2008
Bookletredaktion: Frank Witzel
Dank an Peter Erwin Jansen
© Quartino GmbH, München 2008