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Wie wir Entscheidungen treffen

Hirnforschung und Willensfreiheit
Zwei Originalvorträge von Gerhard Roth und Manfred Spitzer

Autor: Gerhard Roth / Manfred Spitzer
Sprecher: Gerhard Roth / Manfred Spitzer
ca. 55 Minuten

Gerhard Roth, * 15. August 1942 in Marburg, ist Biologe und Hirnforscher. Seit 1976 ist er Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, seit 1989 Direktor, dazu Geschäftsführer der Roth GmbH  Applied Neuroscience. Er hat über 200 Fachartikel im Bereich der Neurobiologie und Neurophilosophie veröffentlicht. Seine Forschungsschwerpunkte sind die neurobiologischen Grundlagen der kognitiven und emotionalen Verhaltenssteuerung bei Wirbeltieren und die Entwicklungsneurobiologie.

Manfred Spitzer, * 1958 Lengfeld, Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie, Weiterbildung zum Psychiater, 1989 Habilitation im Fach Psychiatrie; 1990 - 97 Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, seit 1997 ist Manfred Spitzer Ärztlicher Direktor der neu gegründeten Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Seine Forschungsschwerpunkte sind die allgemeine, experimentelle und klinische Psychopathologie unter Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Konzepte und Methoden. Insbesondere arbeitet er an der Kombination funktionell bildgebender Verfahren (multimodales Neuroimaging) zur genauen räumlichen und zeitlichen Lokalisation höherer geistiger Leistungen und deren pathologischer Veränderungen. Seit 1998 leitet er die dortige Psychiatrische Universitätsklinik; seit 2004 ist Spitzer Leiter des von ihm gegründeten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm.

WIE WIR ENTSCHEIDUNGEN TREFFEN - HIRNFORSCHUNG UND WILLENSFREIHEIT bei Audible downloaden

1 | Gerhard Roth: Das Ich auf dem Prüfstand  Die Hirnforschung und ihre Sicht vom Menschen

Sendung: 10.06.2004, SWR2, Redaktion: Ralf Caspary - Laufzeit: 28:03

Inhalt: Roth entwickelt seine Auffassungen entlang von vier Thesen. Erstens: Das Gehirn ist beim Menschen nicht einzigartig, nur seine Sprache. Bei vielen Säugetieren, vor allem bei Affen finden sich sehr ähnliche Strukturen. Der Geist hat sich mit der Evolution langsam entwickelt. Sprache gehört dem Menschen an, Tiere bilden allenfalls Sätze mit zwei bis drei Worten. Zweitens: Ohne Gehirn gibt es keinen Geist. Bewusstseinsprozesse lassen sich inzwischen durch bildgebende Verfahren darstellen, dabei können die neuronalen Aktivitäten in den verschiedenen Hirnregionen sichtbar gemacht werden. Dabei gilt, dass alles, was sich außerhalb der Großhirnrinde abspielt, unbewusst bleibt. Zusammenfassend lässt sich sagen: Geist und Bewusstsein sind ein Naturgeschehen, sie transzendieren nicht die Natur. Drittens: Persönlichkeit und Charakter entstehen sehr früh mit dem limbischen System. Seine Inhalte bleiben unbewusst. In ihm wird gespeichert, was wir als gut, erfolgreich und lustvoll oder gegenteilig erfahren haben. Dieses System ist dominant, insofern frühe Verletzungen bestehen bleiben, auch positive Erfahrungen können sie nicht auslöschen. Viertens: Wollen, Denken und Handeln werden limbisch gesteuert, sie bleiben daher großteils unbewusst. Die Willensfreiheit ist daher eine Illusion. Zwar ist unser Stirnhirn für Ich-Bewusstsein, Handlungsplanung u.ä. zuständig und Entscheidungen sind dort dem Abwägen zugänglich. In letzter Instanz steuert uns jedoch das limbische System, ohne die Freischaltung einer Handlung wird sie nicht ausgeführt. Es fungiert als Kontrollzentrum, ohne dass wir es bemerken. Das bewusste Ich ist nicht Herr im Haus.

2 | Manfred Spitzer: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es  Die Hirnforschung und die Frage, was uns zum Handeln antreibt

Sendung: 04.07.2004, SWR2, Redaktion: Ralf Caspary - Laufzeit: 27:32

Inhalt: Ein Stein rollt, eine Zecke lässt sich fallen, ein Fisch schwimmt hin und her. Betrachtet man dies unter dem Aspekt einer möglichen Willenssteuerung, so scheint diese immer komplexer zu werden. Mehr noch beim Menschen, zu dessen Selbstverständnis das Gefühl von Freiheit gehört. Betrachtet man menschliches Handeln genauer, fällt auf, dass es rein kausal nicht erklärbar ist. Zum Handeln gehört das Bewerten, manches scheint uns gut, anderes nicht. Dieser Rahmen entsteht durch die Verarbeitung von Beispielen, von Erlebnissen, aus denen wir etwas Allgemeines ableiten. Wir tun eher das, was uns nützt. Hierzu treten aber noch weitere Parameter, wie dies der bekannte Versuch zeigt, bei dem Probanden Geld untereinander aufzuteilen haben. Ein unfairer Vorschlag bereitet uns im wahrsten Sinne des Wortes Schmerzen, wir lehnen ihn ab, obwohl seine Annahme mit einem zumindest kleinen Vorteil verbunden wäre. Ob man der gefühlsmäßigen Tendenz oder der Nutzenerwägung folgt, ist die Frage einer Prädisposition, die die Ökonomie beispielsweise nicht erklären kann. Offensichtlich gibt eine Art von Handlungszwang, der in uns liegt und nicht aus externen Faktoren ableitbar ist. Jeder handelt so wie er muss? Genau das hat die Hirnforschung noch zu erforschen.

© Produktionen des Südwestrundfunks 2004/2018
© Edition Quartino, Franz-Maria Sonner, München 2018
© Covergestaltung: Robert Ott, www.rodesign.de