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Das Problem der Revolution in Deutschland

Rudi Dutschke - Reden, Streitgespräche und Interviews

Autor: Rudi Dutschke
Sprecher: Rudi Dutschke
ca. 200 Minuten

Rudi Dutschke geboren am 7.3.1940 in Schönefeld / Mark Brandenburg, gestorben am 24.12.1979 in Aarhus, Dänemark, an den Folgen eines am 11.4.1968 auf ihn in West-Berlin verübten Pistolenattentates. Symbolfigur der Studentenrevolte 1967/68 in West-Berlin und der Bundesrepublik.

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CD 1 | Rudi Dutschke, Günter Gaus: Zu Protokoll: Rudi Dutschke


Erstsendung: ARD am 3.12.1967, Fernsehinterview Laufzeit: 40:18

Hintergrund: Am 2. Juni 1967 starb in Westberlin der Student Benno Ohnesorg. Er hatte gegen den Empfang des persischen Staatschefs Schah Reza Pahlewi durch den Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz demonstriert. Die Polizei löste die Demonstration vor der Deutschen Oper in Berlin gewaltsam auf. Ohnesorg, der unbewaffnet war, wurde auf der Flucht von dem Zivilpolizisten Karl-Heinz Kurras erschossen. Bis zu Ohnesorgs Tod war die Studentenbewegung eine auf Westberlin und den Campus einiger großer Universitäten der Bundesrepublik eng beschränktes Ereignis, das SDS – Mitglied Rudi Dutschke nur inneruniversitär und im bescheidenen Umfang in den Medien Westberlins wahrgenommen worden. Beides ändert sich nun binnen weniger Tage. Entscheidend für die landesweite und massenmediale Bekanntheit von Rudi Dutschke wurde das Interview, das Günter Gaus mit ihm für seine renommierte Reihe: „Zu Protokoll“ führte. Gaus befreit durch seine sezierenden Fragen Dutschke aus der Rolle als Agitator und führt die Dialogfähigkeit und das argumentative Repertoire seines Gesprächspartners vor. In dieser Form ist das Gespräch von Günter Gaus ein Solitär geblieben. Dutschke hat nie wieder ein vergleichbares medienöffentliches Forum erhalten. Das voraufgezeichnete Interview wird am 3. Dezember 1967 im Abendprogramm der ARD gesendet. Kurz zuvor waren am 27. November waren Bilder Dutschkes als militanter „Rädelsführer“ deutschlandweit durch alle Medien gegangen. Sie zeigten ihn, im gleichen Ringelpullover, den er beim Gespräch mit Gaus im Fernsehstudio trug, beim versuchten Sturm auf das Gerichtsgebäude in Berlin Moabit. Dort wurde noch immer gegen den Kommunarden Fritz Teufel wegen eines angeblichen Steinwurfes auf der Demonstration gegen den Schah verhandelt, während Ohnesorgs Todesschütze Kurras dieses Gericht am 21. November als freier Mann verlassen hatte.

Inhalt: Gaus referiert eingangs Dutschkes biographischen Werdegang und seine aktuelle Rolle in der Studentenschaft und der politischen Debatte im Lande. Dutschke umreißt die Motive für das Streben nach grundsätzlicher Veränderung: Er beschreibt die weitgehende Stagnation der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung, im wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereich. Die Regierungen führten keinen Dialog mit der Bevölkerung, die Parteien dienten nur als Instrumente der Machterhaltung, nicht der Bewusstseinsbildung, das parlamentarische System sei unbrauchbar. Die neue Gesellschaft könne noch nicht konkret beschrieben werden. Der Mensch sei so ausgestattet, dass er seine Geschichte selbst in die Hand nehmen könne. Aufklärung und Aktion dienten zur Verbreiterung der Bewegung, Revolutionäre müssten heute in internationalen Zusammenhängen denken und handeln. Die ungerechte Verfassung des Weltmarktes und das Nationalstaatsdenken seien zu überwinden. Die historische russische Revolution und eine potentielle Revolution unter heutigen Bedingungen werden verglichen, das Vorbild der Pariser Commune 1871 beschworen. Dutschke sieht keine Ideologiemüdigkeit, hält aber vorerst nur die Aufklärung von Minderheiten durch die Studentenbewegung für möglich, die gegen Rechtsextremismus immunisiere. Die BRD solle die NATO verlassen, um nicht zur Niederschlagung von Befreiungsbewegungen eingesetzt zu werden. Dutschke bejaht den bewaffneten Kampf in Lateinamerika, nicht jedoch in den Ländern Westeuropas. Die Geschichte könne gestaltet werden, eine Welt ohne Krieg und Hunger sei möglich. Dutschke bezeichnet die christliche Religion als Wurzel, Solidarität als Triebfeder seines Handelns.

CD 2 | Rudi Dutschke: Das Problem der Revolution in Deutschland


Sendung: 11.2.1968, SDR Moderator: Horst Lehner Gesprächsleitung: Klaus Reblin (Pfarrer, Studienleiter der Akademie) Gesprächspartner: Ernst Bloch, Ossip K. Flechtheim, Werner Maihofer, Wolf-Dieter Marsch Redaktion: Studio Karlsruhe, Literatur Redakteur: Lehner Aufnahmeort: Evangelische Akademie, Bad Boll Laufzeit: 56:33

Hintergrund: Die Teilnahme an dem Podiumsgespräch in der Evangelischen Akademie in Bad Boll ist – wie das Interview mit Günter Gaus – eine der seltenen Reflexionspausen, die sich Dutschke noch dazu auf dem Höhepunkt seiner Rolle als Aktivist und inoffizieller Sprecher der Studentenrevolte zubilligt. Die Tagung in Bad Boll findet eine Woche vor Dutschkes seit Monaten betriebenem wichtigsten propagandistischen Projekt statt, dem „Internationalen Vietnam-Kongress“, zu dem Dutschke Kriegsgegner aus ganz Europa nach Westberlin eingeladen hat. Als Dutschke am 11. Februar verschläft und die Frühmaschine versäumt, entschuldigt er sein verspätetes Eintreffen in Bad Boll bei dem schon laufenden Podiumsgespräch mit seinen überhand nehmenden revolutionären Verpflichtungen. Er hätte die Einladung gewiss abgesagt, hätte Bad Boll nicht die erste persönliche Begegnung mit Ernst Bloch ermöglicht. Sie wurde zum Ausgangspunkt einer lebenslangen Freundschaft. Bloch war für Dutschke ähnlich wie Herbert Marcuse und Helmut Gollwitzer einer der wesentlichen theoretischen Autoritäten, die für die Entwicklung integrer marxistischer Positionen standen.

Inhalt: Dutschkes Gesprächspartner bemängeln die Unklarheit der Ziele der Studentenbewegung. Nur die Negation der bestehenden Verhältnisse werde deutlich. Die Studentenbewegung wird als Jugendbewegung ohne Anschluss an die gesellschaftlichen Mehrheiten beschrieben. Heute sei keine heroische Illusion mehr vorhanden wie in früheren Revolutionen, jedoch Sozialromantik aus den Parolen der Bewegung herauszuhören. Das Verhältnis zu den Errungenschaften der bürgerlichen Revolution und eine Konkretisierung des Marxismus-Verständnisses der Studenten, zur Macht- und Gewaltfrage, beziehungsweise zur Gewaltfreiheit werden nachgefragt. Jeder Form revolutionärer Gewalt gehe permanente Gewalt der Konterrevolution voraus. gegen die Tendenz des Spätkapitalismus, die Massen in Abhängigkeit zu halten, werde antiautoritärer Kampf gesetzt. Die Gewaltfrage sei nicht abstrakt-moralisch, nur politisch konkret zu beantworten. Die Begrifflichkeiten: Toleranz, repressive Toleranz und Faschismus werden untersucht. Revolution könne heute keine Machtergreifung linker Minderheiten sein. Die bestehenden realsozialistischen Länder böten keine wirklich sozialistische Alternative. Kontrovers bewertet wird, dass die Studentenbewegung Parteiengründungen und parlamentarischer Mitarbeit ablehnt. Aus der unerwartet schnellen Entwicklung der Studentenbewegung zur Massenbewegung erwüchsen Probleme. Die Methode, um von der Minderheit zur Mehrheit zu werden, sei der Marsch durch die Institutionen.

CD 3 | Rudi Dutschke: Vortrag an der Karlsuniversität Prag


Privatdokument: Rede in der Prager Karlsuniversität, 3. 4.1968
Laufzeit: 34:55

Hintergrund: Rudi Dutschke fuhr mit seiner Frau Gretchen und seinem am 10. Januar 1968 geborenen Sohn Hosea-Che nach Prag. Er war zur „Christlichen Friedenskonferenz“ eingeladen. Im gleichen Saal der Prager Karlsuniversität, in dem Dutschke am 3. März 1968 sprach, war wenige Tage zuvor Alexander Dubcek aufgetreten. Es ist die einzige öffentliche Rede eines führenden 68ers über die westliche Studentenrevolte vor einem Publikum in einem Land des sozialistischen Lagers – und zugleich die einzige öffentliche Stellungnahme eines westlichen 68ers zu den Ereignissen des Prager Frühlings.

Inhalt: Dutschke referiert über das sich verändernde Verhältnis von Universität, Wissenschaft und Gesellschaft, in der Wissenschaft zur Produktivkraft wird. Er gibt einen Aufriss der wirtschaftlichen Entwicklung der BRD seit 1945, in der in den sechziger Jahren das Ende der Rekonstruktionsperiode erreicht ist: Die benötigte neue Ausbildungsstruktur ruft die Gegenwehr der Studenten gegen kurzfristige Verwertungspläne hervor. Die Studenten entdecken die vietnamesische Revolution als Befreiungsmodell und wehren sich gegen die autoritäre Verfügung über ihre Arbeits- und Lernprozesse an der Universität. In den sozialistischen Ländern waren Partei und Revolution schon lange nicht mehr identisch. Dutschke plädiert für Selbstorganisation und die Bildung von Basisgruppen: Kommunistische Parteien Osteuropas haben das Prinzip der Feuerbachthese von Marx missachtet: Der Erzieher muss erzogen werden. Die stalinistische Form des Sozialismus erstickt Selbsttätigkeit von unten und errichtet eine Herrschaft der Bürokratie. Der Ruf nach Freiheit wird als Konterrevolution denunziert. Die Schritte in der CSSR waren überreif. Dutschke warnt vor Mehrparteiensystem und bürgerlicher Demokratie: Der Sozialismus als Grundstruktur darf nicht zur Disposition stehen. Fraktionen innerhalb der sozialistisch-kommunistischen Parteien müssen jedoch wieder zugelassen werden. Revolutionäre Außenpolitik bedeutet Solidarisierung mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Eine veränderte sozialistische CSSR darf nicht in finanzielle Abhängigkeit von westlichen Staaten geraten.

CD 4 | Rudi Dutschke: Gespräch mit Brigitte und Helmut Gollwitzer


Privatdokument Laufzeit: 58:50

Hintergrund: Durch das Pistolen-Attentat von Josef Bachmann am 11. April 1968 war Rudi Dutschke eine bleibende Beeinträchtigung des Gesichtsfeldes geblieben. Außerdem erlitt er unregelmäßig wiederkehrende epileptische Anfälle. Den zeitweisen partiellen Verlust der Sprachfähigkeit hat Dutschke mit intensivstem Training zu großen Teilen wieder wettgemacht. Seit Juni 1968 lebt er in wechselnden europäischen Exilländern, ab 1971 im dänischen Aarhus. In Westberlin betreibt er seine Dissertation an der Freien Universität. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund SDS, das organisatorische Rückgrat der Revolte, ist 1969 von den zerstrittenen Fraktionen aufgelöst worden, die sich nun als konkurrierende kommunistische Splitterparteien zu etablieren versuchen. Dutschke ist oft bei Brigitte und Helmut Gollwitzer zu gast. Gollwitzer bereitet eine Festschrift für Bundespräsident Gustav Heinemann vor, mit dem er seit langem befreundet ist. Er hat Dutschke eingeladen, dafür einen Beitrag zu verfassen. Bei einem Aufenthalt im Dezember 1973 zeichnen Hellmut und Brigitte Gollwitzer im privaten Rahmen ein Gespräch auf, in dem Dutschke die Argumentationslinie für seinen Beitrag über Heinemann vorstellt.
Dutschke ist in seinem Beitrag als Repräsentant der ehemaligen Studentenbewegung zu einem Rückblick auf die Entfaltung der 68er-Ereignisse gefragt, eine Einschätzung, die im Gespräch jedoch nicht allein von ihm, sondern auch von Brigitte und Helmut Gollwitzer, einem seiner wichtigen Mentoren, entwickelt wird. Dutschkes Buchbeitrag erscheint jedoch nicht. Siegfried Unseld lehnt seine Veröffentlichung ab – wegen eines polemischen Nachtrages Dutschkes über den ebenfalls zur Autorenschaft eingeladenen Helmut Kohl.

Inhalt: Dutschke will seine Einschätzung des Verlaufs der Studentenbewegung von 1966 bis zum Jahr 1972 exemplarisch an drei Ereignissen („drei Fäden“) und den darin involvierten Politikerpersönlichkeiten darlegen. Immer geht es um den Empfang autoritärer und diktatorischer Staatschefs, die jedoch wegen wirtschaftlicher Interessen hofiert werden. Dezember 1966 wird der kongolesische Herrscher Moise Tschombe von Willy Brandt empfangen, der dabei erstmals und überraschend mit einer Demonstration antiimperialistischer Studenten konfrontiert wird. Am 2. Juni 1967 empfängt Brandts Nachfolger Heinrich Albertz Schah Reza Pahlewi, es ist der Tag, an dem im Lauf eines brutalen Polizeieinsatzes gegen die Anti-Schah-Demonstranten Benno Ohnesorg getötet wird. Am 10. April 1973 nimmt Bundespräsident Gustav Heinemann den südvietnamesischen Staatschef Van Thieu mit einem Minimum diplomatischer Aufmerksamkeit in Empfang, in Bonn kommt es zu einer Besetzung des Rathauses durch Demonstranten, die die Presseberichterstattung dominiert. Dutschke interpretiert die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Politiker Brandt, Albertz und Heinemann als Reaktionen auf den Stand und die Höhe der antiimperialistischen Protestbewegung. Zu welchen Verhaltensänderungen und Konzessionen hat die Protestbewegung die Politiker bewegt? Wie haben andererseits die Politiker gelernt, mit Protest umzugehen, ihn abzubiegen und zu neutralisieren? Im Verlauf des Gespräches geht es um die Unfähigkeit der Studentenbewegung, den einmal erreichten politischen Schwung in eigenen, nicht sektiererischen Organisationsstrukturen aufzufangen, sowie die Wirkung dieses Schwunges auf die SPD. Den „Niederlagen“ bei der Durchsetzung konkreter Anliegen und Kampfziele wird im Gespräch der kulturrevolutionäre, atmosphärische Schub entgegengestellt, der in der allgemeinen Politisierung und einer entwickelten Debattenfähigkeit großer Teile der Bevölkerung erblickt wird.

CD 4 | Rudi Dutschke: Interview mit Ulrich Chaussy


Interview: von Ulrich Chaussy, 31.7.1979 Privatdokument Laufzeit: 10:55

Hintergrund: Am 29. Juli 1979 starb Herbert Marcuse in Starnberg, wo er sich zu Besuch an dem von Jürgen Habermas und Carl-Friedrich von Weizsäcker geleiteten Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt aufhielt. Rudi Dutschke fuhr nach Bayern, um als Freund der Familie an der Totenfeier für Marcuse teilzunehmen. Er ging spontan auf die Anfrage ein, seinen verstorbenen Mentor und Freund in einem Rundfunkinterview zu würdigen, seinem wahrscheinlich letzten Rundfunkinterview. Dutschke suchte zu diesem Zeitpunkt wieder die politische Öffentlichkeit. Er trug sich mit dem Gedanken, aus dem dänischen Exil nach Deutschland zurückzukehren. Zum Zeitpunkt seines Gespräches über Herbert Marcuse beteiligte er sich aktiv am Bürgerschafts-Wahlkampf der „Bremer Grünen Liste“, der am 7. Oktober als erstes grünes Wahlbündnis der Einzug in ein deutsches Länderparlament gelang.

Inhalt: Dutschke schildert die Entstehung der Studentenbewegung aus realen Widersprüchen. Durch ihre Solidarität mit Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt geraten die Studenten in den westlichen Gesellschaften unter Druck. Marcuses Bücher riefen die Bewegung nicht hervor, sie reflektierten die gesellschaftliche Situation und zeigen Konfliktlinien auf. Dutschke spricht Marcuses Themen an: soziale Emanzipation, Befreiung, Sexualität, freiheitlicher Begriff von Sozialismus, Arbeit als Disziplinierung, Verweigerung als politischer Widerstand. Ferner erläutert er Marcuses Begriff des Obszönen und bezieht ihn auf historische Ereignisse wie das Eingreifen der Deutschen im spanischen Bürgerkrieg, den Krieg der Amerikaner in Vietnam und die Behandlung der vietnamesischen Boat-People nach der vietnamesischen Revolution. Marcuse befasste sich mit Lebenstrieb und Todestrieb, plädierte für Entfaltung der Persönlichkeit im politischen Raum, wandte sich gegen Rückzug in die Innerlichkeit. Das revolutionäre Subjekt Arbeiterklasse ist per se keine befreiende Klasse mehr, Marcuse betonte Selbstbefreiungsprozesse der einzelnen sozialen Gruppen. Dutschke referiert Marcuses Verständnis von Gewalt und Gegengewalt, das vom Grundrecht auf Widerstand ausgeht.

© Produktionen des Südwestrundfunks 1967,1968,2008,
privat 1968,1973,2008, Ulrich Chaussy 1979,2008
Hrsg.: Ulrich Chaussy
© Quartino GmbH, München 2008