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Möglichkeiten der Utopie heute

Originalvorträge von Ernst Bloch

Autor: Ernst Bloch
Sprecher: Ernst Bloch
ca. 310 Minuten

Ernst Simon Bloch * 8. Juli 1885 in Ludwigshafen am Rhein, † 4. August 1977 in Tübingen, war ein deutscher Philosoph. Sein „Prinzip Hoffnung“ (1954-1959) wurde nicht nur zum geflügelten Wort, sondern zur Pflichtlektüre einer ganzen Generation. Das Werk entfaltet die Kategorie des Noch-nicht-Bewussten, den Vorgriff auf eine bessere Zukunft, der sich zuerst in Träumen, Utopien und künstlerischen Werken ausdrückt.

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CD 1 | Karl Marx heute


Sendung: 05.05.1968, SDR Aufnahmeort: Stadttheater Trier
Ausschnitte aus der Übertragung einer Feier der Deutschen UNESCO-Kommission im Stadttheater Trier Laufzeit: 60:26

Inhalt: Es gehört zum Kennzeichen einer Wissenschaft, dass ihre Ergebnisse von Zeit zu Zeit veralten, weil neue Beobachtungen eingetreten sind. Wird auch die Richtung beibehalten, existieren in der marxistischen Theorie immer Varianten. Marx soll sich mit der Verelendung des Proletariats geirrt haben. Zeigt sich aber nicht in der Wohlfahrtsgesellschaft in dem Augenblick, in dem eine Rezession eintritt, von neuem, dass das Eiapopeia Sozialpartnerschaft sofort aufhören kann? Erscheint nicht am Horizont wieder Verelendung, wenn Schwierigkeiten im Absatzmarkt eintreten? Dass der offene Faschismus nicht das letzte Stadium des Kapitalismus ist, wie selbst kapitalistische Theoretiker angenommen hatten, liegt daran, dass man vom Marxismus gelernt hat, Planung auf die Wirtschaft anzuwenden, und zwar anders, als es im Manchester-Kapitalismus möglich war. Das Ziel der marxistisch-sozialistischen Revolution ist die Abschaffung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein gedrücktes, verschollenes Wesen ist und es die Unterschiede von Herr und Knecht gibt. Alles andere sind Fragen des Mittels. Marx verband das Leibnizsche Gesetz von der Expansionstendenz der Gase mit der Hegelschen Dialektik, um die Theorie Überbau-Unterbau-Relation zu errichten. Ein neuer Typ des Theoretikers entstand. Wahrheit um ihrer selbst willen wurde abgelöst durch das Theorie-Praxis-Verhältnis. Bei Platon und bei Hegel war die Welt fertig. In einer Welt aber, die veränderbar ist, stehen wir an der Front der Geschichte, um so der Wissenschaft den höchsten Rang zu geben, den sie je hatte, nämlich die rechte Theorie zur rechten Praxis zu finden. Durch die Einführung des Engagements in die Wissenschaft findet eine Moralisierung statt. Es heißt nicht mehr anpassen, sondern umwälzen. Nicht die Fakten hinnehmen, sondern die Fakten anpassen. Marxisten sind lernende Wesen, sie lernen aus der Praxis ihrer eigenen Vergangenheit. Engels erkannte an, dass die Sozialutopisten Vorläufer des wissenschaftlichen Sozialismus waren. Die Naturrechtler, die das Glück durch die Abschaffung der Erniedrigten und Beleidigten herzustellen versuchen, bleiben jedoch ohne Anerkennung. Die Studentenrevolte hat keine ökonomischen Wurzeln, sondern ist eine Empörung der Männer mit aufrechtem Gang. Man steht auf und wendet sich gegen das Kriechen auf dem Boden. Wenn die Freiheit vom Erwerb statt der Freiheit des Erwerbs angebrochen ist, muss die Beherrschung der Freizeit gelernt werden. Eine utopische Kultur des Wohin und Wozu ist im Sozialismus angelegt, aber noch nicht entwickelt. Quod erit demonstrandum: Was zu beweisen und zu bewähren sein wird.


CD 2 | Ernst Bloch: Der Schriftsteller in der Industriegesellschaft


Sendung: 03.12.1967, SDR Aufnahmeort: Landesgewerbeamt Stuttgart Redaktion: Literatur und kulturelles Leben Laufzeit: 75:27

Inhalt: In der Studentenbewegung liegt kein ökonomisches, sondern ein politisches Motiv vor: der Wunsch zum aufrechten Gang. Dieses Element kommt aus dem bürgerlich-klassischen Naturrecht, das Modell des aufrechten Mannes, der sich nicht abrichten lässt, der nicht den Hut abzieht, Wilhelm Tell oder Don Carlos. Die Studentenbewegung ist keine anarchistische Bewegung, denn man ist mit den Autoritäten nicht einverstanden, mit Autorität an sich jedoch schon. Nicht nur an den Universitäten, sondern im ganzen überspezialisierten, arbeitsteiligen Dasein fehlen die Fernziele. Man weiß, was man gleich will, aber nicht, was man überhaupt will. Das Fehlen moralischer Quellen des Lebensmutes bringt melancholische Unruhe. Was aber ist nun die Rolle der Intelligenz auf dem Schachbrett des gesellschaftlichen Lebens? Ist es die des Königs? Oder die des Springers? Oder die des stillen Bauern? Wenn Gesellschaft aus Über- und Unterbau besteht, dann ist Überbau nicht allein Reflex der Produktionsverhältnisse im Bewusstsein, sondern auch Impulsgeber für den Unterbau. Die Literaten sind auch die Stifter des Utopischen, also einer Summe von Vorstellungen, die die bisherige Gesellschaft kritisiert und eine andere antizipiert. Sie rechtfertigen die Verhältnisse nicht, sondern setzen ihre Entwürfe in das Konkret-Mögliche einer nicht fertigen Welt hinein. Die deutsche Misere liegt jedoch darin, dass dann abgebremst wird. Schiller, der Ehrenbürger der Französischen Revolution, schreibt dann zum Beispiel: Wenn sich die Völker selbst befreien, dann kann die Wohlfahrt nicht gedeihen. So klingt deutsche Misere. Leuchtende Genies brachen zusammen. So auch Luther, der die Bauern verraten hat. Dabei wurde der Protest, der auch im Wort Protestantismus steckt, in sein Gegenteil verkehrt. Die Freiheit des Christenmenschen bestand lediglich darin, sich einen gnädigen Herrn zu schaffen, wie im Himmel so auf Erden. Ein Gefangener, der mit den Fäusten gegen die Mauer stößt, hat jedoch nach Hegel bereits im selben Augenblick das Gefängnis überschritten, da er die Mauer transzendiert. So setzt Transzendieren des Gegebenen voraus, dass das Gegebene als Schranke erkannt und gegebenenfalls bekämpft wird. Spinoza sagt: Das Wahre ist der Index seiner selbst und des Falschen. Dieser Satz kann jedoch nur gelten, wenn das Wahre bekannt ist. Da wir aber nicht wissen, was der Mensch ist, können wir daraus niemals einen Index des Falschen machen. Wir können jedoch sagen: Das Wahre ist noch nicht das Zeichen seiner selbst, aber Zeichen des Falschen. Insofern ist Utopie kritisch. Obwohl sie nicht weiß, was der wahre Mensch ist.

CD 3 | Ernst Bloch: Was ist der Mensch?


Sendung: 21.12.1971, SDR Aufnahmeort: Universität Tübingen Laufzeit: 54:41

Inhalt: Es kommt Bewegung in die Vorstellung, dass der Mensch fertig ist. Einem Menschen unserer Klassengesellschaft könnte man mit fünfzehn Jahren schon eine Grabinschrift schreiben: Mehr kann der nicht werden. Was aber unterscheidet den Menschen vom Tier, das heißt, was findet sich nur beim Menschen? Zum Beispiel Überbau und Unterbau. Wobei der Überbau nicht von oben heruntergefahren ist wie ein himmlisches Jerusalem, sondern von uns gemacht wurde. Natürlich haben auch die Ameisen Straßen, doch findet man bei ihnen keine Straßen, die mit den Statuen berühmter Ameisen geschmückt wären. Die Frage: Was ist der Mensch? kommt in den bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften auch vor, wird aber fast ausschließlich in Gestalt der Leitbilder und des richtigen menschlichen Verhaltens behandelt. Der standhafte Römer steht da wie kein Mensch dasteht, als Postulat und Verpflichtung, und wenn die Tatsachen ihm widersprechen, umso schlimmer für die Tatsachen. Und so gibt es alle mögliche Leitbilder: Die gute Hausfrau, auf der anderen Seite das Verführerische, Carmen, Lulu, ganz verschiedene Weiber, die in der Realität so gar nicht vorkommen. Mönch und Ritter bei den Männern, dem einen ist verboten, was dem anderen erlaubt ist. Der Citoyen als Leitbild der französischen Revolution mit den Leittafeln: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Natürlich auch im falschen Bewusstsein, doch im wahren-falschen Bewusstsein, da man es noch nicht besser wissen konnte und keinerlei Betrugsabsichten hatte. Aus dem Citoyen wurde der Bourgeois. Die Gesellschaft braucht Leitbilder, weil die Wirklichkeit selbst keinerlei Anschauung dieser Art liefert. Man besitzt in der Umgangssprache den Ausdruck: ein wahrer Freund. Dieser Ausdruck bedeutet nicht, dass der Begriff mit den Tatsachen übereinstimmt, sondern dass es eine Wahrheit gibt, die im Akt des Eingedenkens entsteht. Die Änderung der Tatsachen statt des Gehorsams gegenüber den Tatsachen heißt Revolution. Der Weltprozess ist weder gewonnen noch vereitelt. Wir befinden uns im Schwebezustand eines dauernden Experiments, deren Ausgang zum großen Teil von uns abhängt. Wir können den Gang der Geschichte durchschauen, weil wir sie ja zum großen Teil selbst hergestellt haben. Wir können die Weichen stellen. Zum ersten Mal können wir bewusste Hersteller unserer Geschichte sein. Utopie ist notwendig, denn die ganze Welt ist eine noch nicht Fleisch gewordene Utopie. Es bleibt allerdings die offene Frage, ob es eine Beziehung zwischen dem Subjekt Mensch und dem Subjekt Natur gibt, oder ob das alles desperat bleibt, so dass der Nihilismus doch noch Recht hätte. Doch wir müssen alles tun, damit die Hoffnung eine Heimat findet, endlich eine Heimat. Deshalb kann es nicht heißen: Was ist der Mensch?, sondern: Was kann er werden.

CD 4 | Ernst Bloch: Zum Begriff des Materialismus


Sendung: 28.10.1974, SDR Interview: Marlis Gerhardt Redaktion: Radio-Essay
Redakteur: Helmut Heißenbüttel Laufzeit: 60:51

Inhalt: Die Geburtsstunde des Materialismus fällt mit der Aufklärung zusammen. Aufklärung ist nach Kant Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. So wandte sich das materialistische Denken schon bei seinem ersten Auftreten in Griechenland gegen Aberglauben, Ideologie und Überschätzung des Geistigen. Die griechischen Materialisten suchten das Wesen der Welt und fanden die Elemente, die sie gegen den Mythos setzten. Das möglichst einfach Fassbare ist auch beim historisch-dialektischen Materialismus von Marx und Engels erhalten. Im 18. Jahrhundert verbindet sich der mechanische Materialismus mit einem atheistischen Ansatz und formuliert als ironische Theodizee: Die einzige Rechtfertigung Gottes ist die, dass er gar nicht existiert. Im historisch-dialektischen Materialismus wird die Hegelsche Dialektik vom Kopf auf die Füße gestellt, das heißt man lässt sie gehen, denn der Kopf gehört zum Idealismus, die Füße zum Materialismus. Man macht sie damit auch zum Angriff tauglich. Die Dialektik wurde die Algebra der Revolution. Was aber ist die Beziehung von Utopie zum Materialismus? Wenn Kautsky sagt: So ist denn die Reformation nichts anderes als der ideologische Ausdruck für tiefgehende Veränderungen auf dem europäischen Wollmarkt, bleibt mit dieser Aussage der Kern der Revolution ausgespart. Der Vulgärmarxismus räumt alles weg, was seiner Meinung nach nicht zum Unterbau gehört. Dabei werden die Verbindungen zwischen Überbau und Unterbau nicht genügend untersucht. Das, was uns in Kunst und Gedanken und kanonischen Gestalten und Handlungen ergreift, kann vom Vulgärmarxismus in seinem Hass gegen Kopfarbeit nicht begriffen werden. Marxismus besteht nicht aus Reduktion auf die ökonomische Basis, sondern Wechselwirkung der Basis mit dem Überbau und umgekehrt. Engels bezeichnet die Utopien der großen Utopisten, wie Saint-Simon, Owen und Fourier, als Vorläufer des wissenschaftlichen Sozialismus. Sozialismus ist der Fortschritt von der Utopie zur Wissenschaft. Marx hat diese Utopien genau wie die Hegelsche Dialektik vom Kopf auf die Füße gestellt, so dass Lenin sagen konnte: Die drei Quellen des Marxismus sind deutsche Philosophie, englische Ökonomie und französische Revolutionsutopie. Der Weltprozess selbst ist voll von Allegorien, Symbolen und Utopien, da er nicht abgeschlossen ist. Die Naturschönheit ergreift uns wie ein Versprechen. Nicht ohne Grund wurden der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir von Kant nebeneinander gestellt. Der bestirnte Himmel ist ein Versprechen. Aus dem Tagtraum, der bei Freud stiefmütterlich als Vorstufe des Nachttraums behandelt wird, entstehen in Wirklichkeit, da er keine Zensur hat, alle künstlerischen und religiösen und moralischen Gebilde. Wesen ist Werden, nicht Gewesenes.

CD 5 | Ernst Bloch: Möglichkeiten der Utopie heute


Sendung: 06.05.1964, SWF Gespräch: mit Theodor W. Adorno und Horst Krüger Laufzeit: 58:09

Inhalt: Unzählige utopische Träume haben sich erfüllt, doch wirken diese Träume so, als hätten sie in ihrer Erfüllung eine eigenartige Ernüchterung und Langeweile angenommen. Die Erfüllung der Utopie besteht heute nur noch in der Wiederholung des Immergleichen und führt eine Melancholie der Erfüllung mit sich. Dabei ist die vorgestellte Utopie in zweierlei Hinsicht möglich: entweder als Topos, es gibt sie irgendwo, aber ich bin nicht dort, oder in der Zukunft, das heißt, nicht nur ich bin nicht dort, sondern sie ist selbst noch nicht existent. Nicht erst wenn wir hinfahren, sondern indem wir hinfahren, erhebt sich die Insel Utopia aus dem Meer. Im Innersten wissen alle Menschen, ob sie es sich zugestehen oder nicht, dass es möglich ist, ohne Hunger und Angst zu leben. Gleichzeitig hat sich die gesellschaftliche Apparatur so verhärtet, dass das, was als greifbare Möglichkeit vor Augen steht, als radikal unmöglich präsentiert wird. Die Sehnsucht ist eine allgemeine und die ehrlichste Eigenschaft der Menschen. Dabei gibt es Utopien, die nie direkt als solche bezeichnet wurden: architektonische Utopien, Häuser, die nie bezogen werden können, medizinische Utopien, die an der Abschaffung des Todes arbeiten, religiöse Utopien, so dass man auch bei einer sozialen Utopie untersuchen muss, was von anderen Utopien in ihr mitklingt. Zum Begriff der Utopie gehört wesentlich, dass sich nicht nur eine Kategorie isoliert verändert, sondern alles, auch unser Verhältnis zum Tod. Die Möglichkeit der Unsterblichkeit hat dann nichts Schreckliches mehr, sondern ist das, was man eigentlich will. Das Christentum siegte nicht mit der Bergpredigt, sondern mit dem Ruf: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Der Tod stellt die härteste Gegenutopie dar. Bei der Abschaffung des Todes geht es nicht darum, die Schwelle zwischen organischem und anorganischem Leben durch weitere Entdeckungen zu überschreiten. Vielmehr ist der Gedanke der Utopie gar nicht ohne die Vorstellung eines fessellosen, vom Tod befreiten Lebens zu denken. Jeder Versuch, die Utopie positiv auszumalen, ist der Versuch über die Antinomie des Todes hinwegzugehen und so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Darin liegt der Grund, warum man von der Utopie nur in der bestimmten Negation sprechen kann. Von dem als falsch Kenntlichen aus bestimmt sich das Wahre. So wenig wir wissen, wie das Richtige wäre, so genau wissen wir, was das Falsche ist. Dieses utopische Element ist im Sozialismus und im Westen gleichermaßen verschwunden. Denn Hoffnung ist das Gegenteil von Sicherheit, Hoffnung ist nicht Zuversicht, sondern kann enttäuscht werden. Hoffnung ist kritisch und nagelt selbst im Untergang noch eine Flagge an den Mast, auf der steht, dass das nicht akzeptiert wird.

© Produktionen des Südwestrundfunks 1964/1967/1968/1971/1974/2008
Bookletredaktion: Frank Witzel
© Quartino GmbH, München 2008