PROGRAMM AUTOREN VERLAG KONTAKT

Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr

Originaltonaufnahmen

Autor: Martin Walser
Sprecher: Martin Walser, Heinz Ludwig Arnold, Peter Wapnewski, Horst Tim Lehner, Sepp Scherbauer, Alois Rummel, Helmut Braem, Tobias Lelle, Günter Hermes, Peter Pawlik, Klaus-Michel Hinz, Ekkehart Rudolph, Herbert Heckmann, Walter Senk, Günter Verdin, Gudrun Deinzer, Ernst Konarek, Volker Schwenck, Wolf Scheller, Jürgen Hoeren, Uwe Kossack, Silke Arning
ca. 15 Stunden

NICHTS IST OHNE SEIN GEGENTEIL WAHR bei Amazon downloaden

Jetzt zusätzliche Tracks online im SWR2-Archivradio!

Im März 2012 feiert Martin Walser seinen 85. Geburtstag. Der Schriftsteller ist bereits in den fünfziger Jahren als Mitglied der Gruppe 47 hervorgetreten und hat seither ein umfangreiches Werk vorgelegt, in dem sich die Geschichte der Bundesrepublik spiegelt. Seine Protagonisten sind zumeist kleinbürgerlichen Zuschnitts. Der Begriff des Kleinbürgers ist von Walser dabei keineswegs herabsetzend gemeint, er bezeichnet eine durch diese soziale Mittellage begründete Zerrissenheit, derentwegen Lebensentwürfe selten gelingen. Der Kleinbürger steht zwischen dem Proletarier und dem Bourgeois, auf eine groteske Weise hat er an der Bestimmung beider Anteil: Er beutet sich selbst aus. Er ist Täter und Opfer gleichermaßen und vereinigt auf sich jene schwebende Unentschiedenheit der Gegensätze, die Walser in seinen Poetikvorlesungen, dem Kernstück dieser Sammlung, als das Prinzip der Ironie herausgearbeitet hat: Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.

Man wirft Walser immer wieder vor, der ehemals Linke habe die Seiten gewechselt. Ob sich der Standpunkt des Schriftstellers oder nur die Kulisse verändert hat, dies zu überprüfen, bietet die vorliegende Sammlung ausreichend Gelegenheit: Sie umfasst Selbstzeugnisse von 1969 bis heute.

Aus der Rezension in der ZEIT-Literaturbeilage März 2012:

"Pünktlich zu seinem 85. Geburtstag am 24. März hat Walser nun 31 Vorträge und Gespräche versammelt, die in seinen südwestdeutschen Heimatsendern SWF, SDR und SWR zwischen 1964 und 2009 über den Äther gingen: 15 Stunden Walser über Walser, O-Töne aus über 40 Jahren - Bekenntnisstoff von jemandem, der oft genug das mal mehr, mal weniger berechtigte Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen. (...)
Sicher ist dieses Walser-Panorama aus den Tonarchiven ein eindrucksvolles Zeugnis deutscher Literaturgeschichte nach 1945. Aber darüber hinaus berührt es ganz eigentümlich: Ausgeprägtes Ego und tief rumorender Zweifel sind untrennbar vereint, mal verdruckst, mal erschütternd offenherzig zittern hier die Seelenzustände eines Intellektuellen aus den Lautsprechern."


Zur Person


Martin Walser, *24.3.1927 in Wasserburg am Bodensee, Schriftsteller, Mitglied der Gruppe 47, promovierte 1951 in Tübingen über Franz Kafka. Walser schildert seit Mitte der fünfziger Jahre in über 30 Romanen (darunter die Kristlein-Triologie: Halbzeit, 1960; Das Einhorn, 1966; Der Sturz, 1973), vielen Theaterstücken (Die Zimmerschlacht, 1967; Das Sauspiel, 1975) und Novellen (Ein fliehendes Pferd, 1978) vor allem die Verwerfungen seiner meist kleinbürgerlichen Helden in ihren Beziehungen zur Außenwelt und zu sich selbst. In Reden, Aufsätzen und Essays (Ich vertraue. Querfeldein, 2000) setzt Walser sich immer wieder mit aktuellen politischen Themen auseinander. Er erhielt mehrere Preise und Ehrungen, darunter den Georg-Büchner-Preis 1981 und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998, ist Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Ehrendoktor der Universitäten Konstanz, Dresden, Hildesheim und Brüssel.

1 GESPRÄCH ÜBER DIE RELIGION

INTERVIEWER: Reinfried Hörl
ERSTSENDUNG: 15.10.1969, SDR DAUER: 14:20
INHALT: Walsers Jugend spielte sich in einer mittelalterlich geschlossenen Sphäre ab, beherrscht von einem Katholizismus, der ihn nicht mehr los ließ: Eine einschränkende, hemmende, vielleicht aber auch insgeheim fruchtbare Beigabe zum eigenen Leben. Der Katholizismus hindert am Wissen und lenkt in Sackgassen hinein, weil das eigene Ich und die Welt durch ihn nicht erklärt werden können. Außerdem trägt er nicht dazu bei, die immer noch ungezähmte und asoziale Bestie Mensch zu bändigen. Der Beitrag der Katholischen Kirche ist mittlerweile nur noch historisch anzusehen, da ein verbrauchtes Angebot immer weiter perpetuiert wird.

 

2 GESPRÄCH ÜBER DEN ESSAY Über die neueste Stimmung im Westen

INTERVIEWER: Horst Tim Lehner/Heidi Grundmann ERSTSENDUNG: 23.11.1969, SDR2 DAUER: 03:46
INHALT: Jüngere Autoren wie Handke oder Brinkmann scheuen sich nicht, fast asoziale Äußerungen und Gewaltverherrlichung in ihren literarischen Produktionen vorzuführen. Solche Erscheinungen sind zwar in der Gesellschaft vorhanden, können aber auch in ihrer künstlerischen Umsetzung faschistoide Züge tragen, derer sich diese Autoren oftmals nicht bewusst sind, weshalb man mit ihnen darüber in einen Dialog treten muss.

 

3 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Der Sturz

INTERVIEWER: Peter Wapnewski/Horst Tim Lehner ERSTSENDUNG: 04.05.1973, SDR2 DAUER: 43:10
INHALT: Martin Walser spricht über seine Romanfigur Kristlein, dessen Romantrilogie mit dem Roman Der Sturz abgeschlossen ist. Die Figur des Anselm Kristlein ist für Walser ausgereizt, nicht weiter entwicklungsfähig und mit ihren 53 Jahren praktisch am Ende. Die Eigenschaften, die durch Konkurrenz entwickelt wurden, sind so übermächtig geworden, dass sie nicht einfach umkehrbar sind. Parallel zu dieser Entwicklung gibt es eine sprachliche Veränderung, denn Walsers Stilistik wurde sparsamer, die Ironie verschwand. Dennoch stellt sich der Autor hinter seine oft widersprüchliche und nicht immer sympathische Figur, mit der er jedoch nicht verwechselt werden möchte.

 

4 SCHÜLER DES GYMNASIUMS ÜBERLINGEN BEFRAGEN MARTIN WALSER

INTERVIEWER: Die Schüler ERSTSENDUNG: 26.04.1974, SDR2 DAUER: 27:48
INHALT: Martin Walser antwortet auf die Fragen der Gymnasiasten, an wen sich Walser mit seiner Arbeit richtet, wie er die gesellschaftliche Rolle des Schriftstellers sieht, welche Unterschiede es zwischen Roman und Theater gibt und welche Einstellung Walser zu der Tatsache hat, dass im Schulunterricht immer noch vor allem die Klassiker gelesen werden und nicht zeitgenössische Autoren.

 

5 GESPRÄCH ÜBER DIE SCHRIFTSTELLEREI UND DAS ESSEN

INTERVIEWER: Sepp Scherbauer ERSTSENDUNG: 03.12.1974, SWF DAUER: 03:48
INHALT: Wahrscheinlich wird man Schriftsteller, weil man zu nichts anderem taugt und merkt, dass einem die Zeit am Schreibtisch am schnellsten vergeht. Auf die Frage, was er gerne esse, kann Walser eher angeben, was er nicht mag, nämlich vor allem das, was aus dem Meer kommt, eher liegen ihm die typischen Mehlspeisen.

 

6 GESPRÄCH ÜBER DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN SCHRIFTSTELLERN UND POLITIKERN

INTERVIEWER: Alois Rummel PRODUKTION: Okt. 1964, SWF DAUER: 19:02
INHALT: Die Differenzen zwischen Schriftstellern und Politikern sind auf verschiedenste Gegenstände verteilt. Während der Schriftsteller immer bemüht ist, möglichst nahe an sich selbst zu formulieren, wird sich der Politiker in der öffentlichen Diskussion immer einer bestimmten Sprache bedienen, während er erst nach der Diskussion offen spricht. Machtausübung verdirbt mit Sicherheit die Sprache. Auch ist eine enge Verbindung zwischen Schriftstellern und Politikern nicht wünschenswert, denn Schriftsteller drücken sich über ihre Bücher aus, während Politiker die Realität organisieren wollen. Politiker sind eher idealistisch geprägt, während sich Walser eine Gesellschaft nicht vorstellen kann, die auf Idealismus aufgebaut ist.

 

7 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Jenseits der Liebe

INTERVIEWER: Horst Tim Lehner/Helmut Braem ERSTSENDUNG: 14.05.1976, SDR2 DAUER: 43:50
INHALT: Das Klassenbewusstsein des Kleinbürgers besteht darin, dass er sich als Vereinzelten sieht. Er bekommt von den Unterdrückern eingeredet, dass er die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung besitze, weshalb er sein Scheitern als persönliches Versagen begreift. Das typische Ende des Kleinbürgerromans früherer Zeiten war der Rückzug in die Welt der Phantasie. Dort konnte man innerlich kompensieren, was einem äußerlich fehlte. Diese Lösung ist im Jahr 1976 jedoch nicht mehr möglich. Vielmehr muss man der Aussichtslosigkeit Ausdruck geben, weshalb Walsers Romanheld einen Selbstmordversuch begeht, der jedoch auch nicht gelingt.

 

8 MARTIN WALSER ÜBER SEINE ENTWICKLUNG VOM LESER ZUM SCHRIFTSTELLER

REGIE: Lothar Schluck SPRECHER: Tobias Lelle INTERVIEWER: Günter Hermes ERSTSENDUNG: 23.08.1976 DAUER: 05:00
INHALT: Walser fand durch familiäre Umstände nicht viel Zeit zum Lesen. Nachdem er ausgiebig Schiller und Karl May verschlungen hatte, bekam er mit 13 Dostojewski in die Hände und fing an, in Hefte hineinzukritzeln, weil ihn die Frage beschäftigte, wer er ist. Bereits damals wurde ihm klar, dass er nichts anderes in seinem Leben machen will als schreiben.

 

9 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Ein fliehendes Pferd

REGIE: Hanns Bernhardt INTERVIEWER: Peter Pawlik/Klaus-Michel Hinz ERSTSENDUNG: 18.03.1978, SWF2 DAUER: 33:00
INHALT: Nachdem die Kritik, darunter vor allem Marcel Reich-Ranicki, Walsers Roman Jenseits der Liebe verrissen hatte und nun seinen Roman Ein fliehendes Pferd lobt, äußert Martin Walser sich vor allem über die Rolle der Literaturkritik. Walser bezeichnet die vernichtende Kritik Reich-Ranickis als „Tötungsversuch“. Die Frage, ob sein neuer, viel gelobter Roman ein Neuanfang sei, weist er jedoch als grotesk zurück. Den Unterschied der Prosa zwischen den beiden Romanen sieht er als Autor nicht. Ihm ist die Denkart der Kritik schlechterdings nicht begreiflich. Er wird in seiner Stimmung durch eine solche Kritik tangiert, aber beim Arbeiten muss er sich allein auf sich selbst verlassen können. „Der nächste Satz ist immer unbekannt. Ich kann mir nicht vorschreiben, was ich schreibe.“

 

10 IM GESPRÄCH MIT EKKEHART RUDOLPH

INTERVIEWER: Ekkehart Rudolph ERSTSENDUNG: 13.10.1978, SDR2 DAUER: 43:24

INHALT: Martin Walser beschreibt sich selbst als Kleinbürger, der seine Aufgabe darin sieht, seiner Klasse das zu verschaffen, was ihr fehlt, nämlich Bewusstsein über ihre Notwendigkeit, da sie die entscheidende und geschichtsbestimmende Klasse des Jahrhunderts ist. Während der Bürger andere ausbeutet und der Proletarier ausgebeutet wird, gehören Kleinbürger zu einer sich selbst ausbeutenden Klasse. Walsers Figuren dürfen in diesem Zusammenhang das Maul weiter aufreißen als er selbst. Mit ihrer Darstellung wendet er sich gegen den ihm schon immer suspekten Begriff des Individuums, dem er den Begriff des „Dividuum“ entgegenstellt, dessen Bewusstsein vom gesellschaftlichen Sein geprägt wird.

11 MARTIN WALSER ÜBER DIE VERFILMUNG SEINES ROMANS Das Einhorn

ERSTSENDUNG: 22.03.10, SDR DAUER: 04:35
INHALT: Wer erwartet, dass ein Film das Buch quasi in einem anderen Medium darstelle, der muss zwangsläufig enttäuscht werden, denn so etwas wie eine Literaturverfilmung kann es nicht geben. Ein Regisseur fühlt sich durch Personen oder Stoffe eines Romans bestenfalls angeregt. Das Buch gleicht einem Steinbruch, aus dem der Regisseur sich bedient, um seinen Film daraus zu machen. Der Film hat jedoch genausowenig mit dem Buch zu tun wie ein Haus mit einem Steinbruch.

12 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Seelenarbeit

INTERVIEWER: Herbert Heckmann/Horst Tim Lehner ERSTSENDUNG: 13.04.1979, SDR2 DAUER: 43:50
INHALT: In dem Roman Seelenarbeit geht es um die Abhängigkeit der Hauptperson, eines Chauffeurs, der in der Auseinandersetzung mit seiner Lage ein historisches Bewusstsein entwickelt, das bis zu den Bauernkriegen zurückreicht. Während er selbst nicht ausbrechen kann, verkörpert seine Tochter eine Hoffnung, da sie „hinab will und nicht hinauf“. Walser weist die Kritik zurück, ein Chauffeur könne nicht die feinen Reflektionen anstellen und Beobachtungen haben, die er ihm im Text zuschreibe. Auch Königssöhne haben nie so gesprochen, wie Shakespeare es ihnen in den Mund gelegt hat.

13 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Das Schwanenhaus

INTERVIEWER: Walter Senk ERSTSENDUNG: 14.10.1980, SWF DAUER: 06:05
INHALT: Das Buch ist eine schwache Ware, die es gegenüber anderen Waren nicht immer leicht hat, weshalb Walser seine Lesungen so plant, dass der Unterhaltungswert im Vordergrund steht. Er trimmt den Text, um ihn vortragbar zu machen und hofft, dass die Zuhörer so zum Buch geführt werden. Im Mittelpunkt des Romans Das Schwanenhaus steht eine alte großbürgerliche Villa. Für den Markler Zürn wird sie zum Symbol seiner eigenen Existenz, denn es gelingt ihm nicht, die Konkurrenz zu überbieten und den Abriss des Hauses zu verhindern.

14 ÜBER IRONIE – Poetikvorlesung an der Universität Frankfurt Wintersemester 1980/1981 1. VORLESUNG Über romantische Ironie

REGIE: Hanns Bernhardt ERSTSENDUNG: 21.02.1981, SWF DAUER: 44:40
INHALT: Hegel bezeichnete Schlegel als Begründer der romantischen Ironie. Die Ironie ist die freiste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst hinweg. Eine wichtige Rolle spielte für die Romantiker Fichte, zu dessen Vorlesungen sie nach Jena pilgerten, denn die von Fichte entworfene Wissenschaftslehre hatte keinen anderen Inhalt, als auf mathematisch unwiderlegbare Art das Selbstbewusstsein zu deduzieren. Da es unmöglich ist, das Ich mit dem Nicht-Ich zu vereinigen, schwebt der Geist beständig zwischen dieser Forderung nach Vereinigung und ihrer unmöglichen Erfüllung. Genau in dieser schwebenden Bewegung findet sich die Denkungsart der romantischen Ironie. Nur durch das Stoßen an das Nicht-Ich werden wir uns unserer selbst bewusst, denn wenn das Ich sich nicht am Nicht-Ich reflektieren würde, käme es nie zu einem Bewusstsein von sich. Allerdings verfremdeten die Romantiker die Ironie schon bald von einem Schweben zu einem Über-den-Dingen-Schweben.

15 ÜBER IRONIE – Poetikvorlesung an der Universität Frankfurt Wintersemester 1980/1981 2. VORLESUNG Über Thomas Mann

ERSTSENDUNG: 21.03.1981, SWF DAUER: 51:00
INHALT: Thomas Manns Figur Tonio Kröger befindet sich in einer ähnlichen Position der Ironie wie die Romantiker, denn er schwebt zwischen den beiden Polen Künstler und Bürger. Ironie ist immer eine Ironie nach beiden Seiten, heißt es später in Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. Und ähnlich wie die Romantiker arbeitet Thomas Mann in diesen Betrachtungen eine Reihe von Gegensatzpaaren ab, sodass man Zeuge werden kann, wie ein Bewusstsein zu sich selbst findet. Im Falle Thomas Manns findet es zu einem bürgerlichen Bewusstsein, denn er wird zum „konservativen Ironiker“, den er dem „Radikalisten“ gegenüberstellt. Sein Stil ist dabei keineswegs ironisch, vielmehr stellt er den Ironiker mit realistischen Mitteln dar. Woher aber stammen die Ironiker? Aufstiegssüchtige und Abstiegsgefährdete scheinen am meisten zum Ironiker zu taugen. Schon Goethe hatte aber im Wilhelm Meister den Gegensatz Künstler – Bürger als falschen Gegensatz enttarnt und durch den Gegensatz Herrschender – Beherrschter ersetzt, denn als Herrscher kann man sein, was man will, auch Künstler.

16 ÜBER IRONIE – Poetikvorlesung an der Universität Frankfurt Wintersemester 1980/1981 3. VORLESUNG Über Robert Walser

REGIE: Dr. Gunter Schäble ERSTSENDUNG: 18.04.1981, SWF DAUER: 44:38
INHALT: Im Gegensatz zu Thomas Mann, der eine ironische Figur in einem unironischen Roman auftreten lässt, verbindet Robert Walser in seinem Roman Jakob von Gunten den ironischen Stil mit einer ironischen Figur. Auch bei Robert Walser findet sich die Zweiteilung als Bedingung der ironischen Bewegung. Robert Walser lässt seine Figur die Welt in Herrschaft und Elevenschaft einteilen. Was in der Knabenschule gelehrt wird, ist, die Vorteile der Elevenschaft zu erkennen. Jakob macht das mit folgenden Sätzen deutlich: „Es ist eine sehr, sehr bewegungsfähige kleine, bieg- und schmiegsame Würde. Übrigens legen wir sie an und ab je nach Erfordernissen.“ „Wer sich selbst schätzt, ist vor Herabwürdigung nie sicher. Uns tröstet vieles, weil wir uns selber wenig schätzen. Stets begegnet dem selbstbewussten Menschen etwas Bewusstseinsfeindliches.“ In Robert Walsers Roman wird die Hoffnung weggenommen, die Gegenwart wird so wie sie ist akzeptiert, wodurch sie geradezu irrsinnige Züge bekommt. Je schlimmer desto besser, je kleiner gemacht, desto größer wird er, nackt auf die Straße geworfen, wird er zum Gott, diese prozessuale Umkehr unterscheidet die Ironie Robert Walsers von der Goethes und Thomas Manns.

17 ÜBER IRONIE – Poetikvorlesung an der Universität Frankfurt Wintersemester 1980/1981 4. VORLESUNG Über Franz Kafka

REGIE: Hanns Bernhardt ERSTSENDUNG: 16.05.1981, SWF DAUER: 51:15
INHALT: In Kafkas Erzählung Die Verwandlung taucht das ironische Gegensatzpaar Mensch – Tier auf. Gregor Samsa, der sich über Nacht in einen Käfer verwandelt fühlt, wird von den anderen in Aussehen und Äußerungen als verabscheuungswürdiger Parasit wahrgenommen, während er selbst weiter auf menschliche Art reflektiert. Das Verhältnis seiner Eltern und insbesondere seiner Schwester steigert sich in einer ironischen Paradoxie zu der Äußerung, dass es sich bei dem Käfer gar nicht um den verwandelten Gregor handle, denn wenn er es wirklich wäre, hätte er sich schon längst entfernt und seiner Familie das Zusammenleben mit ihm nicht länger zugemutet. Als Gregor diesen Satz hört und in sich spürt, dass er ihm noch mehr zustimmt als die, die ihn sagten, beschließt er zu sterben. Einmal tot, blüht die Familie auf und nimmt ihn in der Erinnerung wieder in ihre Mitte.

18 ÜBER IRONIE – Poetikvorlesung an der Universität Frankfurt Wintersemester 1980/1981 5. VORLESUNG Zusammenfassung

REGIE: Lothar Schock ERSTSENDUNG: 20.06.1981, SWF DAUER: 46:25
INHALT: Während der junge Kierkegaard in seiner Dissertation noch als Hegel-Schüler die Ironie der Romantiker verurteilt, bedient er sich in seinen späteren Schriften genau dieser Ironie, um sein Glaubensproblem zu behandeln, indem er in der ironischen Bewegung das Kennzeichen der religiösen Sphäre sieht, in der das Positive am Negativen kenntlich wird. Kierkegaard nennt diese Ironie Gegensätzlichkeitsform und gibt für deren Bewegung folgendes Beispiel: Wenn ein Mann den Mund so voll Essen hat, dass er nicht zum Essen kommt und zu verhungern droht, ist es dann nicht besser, ihm etwas Essen aus dem Mund zu nehmen, anstatt ihm noch mehr hineinzustopfen? Die Gewissheit des Glaubens aber ist die ironischste von allen, da sie an der Ungewissheit kenntlich und erfahrbar wird.

19 GESPRÄCH ÜBER GESELLSCHAFT UND LITERATUR

INTERVIEWER: Peter Pawlik ERSTSENDUNG: 19.02.1982, SWF2 DAUER: 44:15
INHALT: Ausgehend von der Behauptung Adornos, dass Beckett in seiner Unverständlichkeit gesellschaftlich weniger affirmativ war als etwa Brecht, geht es um die Frage, inwieweit Literatur mit Absicht gesellschaftsverändernd wirksam werden kann. Walser ist der Meinung, dass der Schriftsteller aus seiner Erfahrung heraus arbeitet und nur das anbietet, was er vermag, ohne beeinflussen zu können, was damit gemacht wird. Walser, der gerade den Büchnerpreis bekommen hat, hält nichts davon, wie etwa Böll oder Grass, Preise abzulehnen. Seiner Meinung nach ist es zu spät, einen Orden abzulehnen, denn man ist schon integriert, wenn man einen Preis überhaupt angeboten bekommt. Es gibt keine dem Bücherschreiben vorausgehende Analyse, sondern das Bücherschreiben selbst ist die Analyse des gesellschaftlichen und privaten Umfelds. Das Buch hingegen stellt sich dem Leser zur Verfügung, um eine Analyse seines eigenen Lebens vorzunehmen. Dabei muss der Autor aufpassen, dass er das Werk nicht schädigt, indem er bewusste Positionen innerhalb des Schreibens einzunehmen versucht. Man muss quasi vorübergehend ertauben, um den einen Ton aus sich herauszubringen, gleichzeitig ist man während des Schreibprozesses mit der gesellschaftlichen Aktualität konfrontiert, diese Aktualität ist das Gegenwicht, gegen das man den eigenen Ton herausarbeitet.

20 GESPRÄCH ÜBER DAS STÜCK In Goethes Hand

INTERVIEWER: Günter Verdin REDAKTION UND MODERATION: Siegfried Höfermann ERSTSENDUNG: 18.12.1982, SDR1 DAUER: 05:15
INHALT: Die Liebe zwischen Eckermann und Goethe wurde zu einer deformierenden Abhängigkeit. Dabei gibt es für Walser nicht einen Goethe, vielmehr entdeckt er immer wieder ein neues Verhältnis zu dem Autor, der für jeden deutschen Schriftsteller zur eigenen Genealogie gehört.

21 MARTIN WALSER ÜBER DEN ROMAN Brandung

REDAKTION: Ekkehart Rudolph ERSTSENDUNG: 14.08.1985, SDR2 DAUER: 03:43
INHALT: Der Titel Brandung steht für ein Gefühl der Ohnmacht. Der Titelheld Helmut Halm sieht sich während seines Aufenthalts in Kalifornien im doppelten Sinn einer Brandung ausgesetzt, einmal der tatsächlichen Brandung des Meeres, dann aber der noch viel stärker über ihn hereinbrechenden Brandung des in Kalifornien beständig ausgestellten Jugend- und Schönheitswahns.

22 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Brandung

INTERVIEWER: Heinz Ludwig Arnold/Horst Tim Lehner ERSTSENDUNG: 04.10.1985, SDR2 DAUER: 39:05
INHALT: Im Gegensatz zur Kristlein-Trilogie hat sich die Perspektive im Roman Brandung nicht nur vom Ich- zum Er-Erzähler verschoben, sondern verschiedene Nebenfiguren werden komplett ausgeführt und gewinnen damit an Bedeutung, um die Reaktionen der Hauptfigur herauszufordern. Dennoch spielt sich das Meiste in den Gedanken des Protagonisten Helmut Halm ab, der in einen monologischen Liebesroman gerät. Eine wichtige Rolle spielt auch Kalifornien, das mit seiner Lebenszugewandtheit in starkem Kontrast zum alternden Halm steht. Walser pflegt in seiner Arbeit die alte Tradition des Romanautors, der seine Motive von Buch zu Buch ernster nimmt, um durch Variation und Wiederholung einen Zuwachs an Bedeutung zu gewinnen.

23 DER DICHTER UND DAS FLIEHENDE PFERD

INTERVIEWER: Gudrun Deinzer ERSTSENDUNG: 14.11.1985, SDR3 DAUER: 40:50
INHALT: Anhand seines gerade erschienen Romans Brandung entwickelt Martin Walser eine Typologie des Kleinbürgertums, zu dem er sich selbst auch zählt. Der Kleinbürger zeichnet sich durch ein mangelndes Selbstbewusstsein aus. Schreiben ist für Walser eine Form der Selbstverteidigung. Anlass ist die Frustration in der Wirklichkeit, die durch das Schreiben ausgelöscht und durch das Geschriebene ersetzt wird. Nachdem Walser gerade den Roman Brandung fertig gestellt hatte, empfand er die Aufforderung reizvoll, seine Novelle Das fliehende Pferd zu einem Theaterstück umzuarbeiten, da auch in ihr der Protagonist der Brandung, Helmut Halm, eine entscheidende Rolle spielt.

24 O, DASS DIE WAHRHEIT SELBST VON IHREM LICHT MIR SCHENKTE – GESPRÄCH ÜBER AUFKLÄRUNG UND LITERATUR

INTERVIEWER: Ekkehart Rudolph ERSTSENDUNG: 30.12.1986, SDR2 DAUER: 58:45
INHALT: Diejenigen, die alle Menschenrechte und alle Privilegien haben, beginnen, sich nach einer Tyrannei der Werte zu sehnen, wie Nicolai Hartmann sagt. Aktuelle Beispiele wären etwa Peter Handke oder Botho Strauß, die sich nicht davor scheuen, sich mit dem Mund voller Werte auch der Lächerlichkeit preiszugeben. Man darf aber nicht eine ungeordnete Fülle von Erscheinungen wie Drogen, Fantasy-Literatur und Postmoderne zu einer Idee der Gegenaufklärung zusammenbündeln. Auch die Innerlichkeitsarbeit kann seriös sein und darf nicht mit einem Scheitern der Aufklärung verwechselt werden. Wir können heutzutage nicht mehr mit dem Schillerschen Gestus etwas vor dem Weltgericht einklagen, die Fallhöhe ist viel geringer, weil die Gemeinheiten viel intimer sind und manchmal sind wir sogar selbst auf der Seite der Unterdrücker.

25 ES GIBT VIELE SPRACHEN AUF DER ERDE, UM SEINER SELBST INNE ZU WERDEN – GESPRÄCH ÜBER DIE ARBEIT DES SCHRIFTSTELLERS

AUTOR: Claus Rehfeld BEARBEITER: Uta-Maria Heim REGIE: Eberhard Klasse INTERVIEWER: Ernst Konarek ERSTSENDUNG: 18.09.1992, SDR DAUER: 20:40
INHALT: Schreiben beschäftigt sich vor allem mit dem Vergehen der Zeit. Jeder Satz ist nichts anderes als eine Gliederung des Vergehenden. Wenn man allein in einem Zimmer sitzt und schreibt, wird man zum Spezialisten für das Verrinnen der Zeit. Das Ausgeschriebene gleicht dabei eher der Notenschrift des Komponisten als etwa einem Film, da das Geschriebene immer unfertig bleibt und vom Leser umgesetzt werden muss. Eine positive Erfahrung bringt Walser nicht zum Schreiben. Nur wenn etwas schmerzlich ist oder nicht befriedigend verläuft, aus dem Mangel, und sei es der Mangel an Sinn, entsteht der Impuls, etwas aufzuschreiben. Sinn muss gemacht werden und ist kein Naturprodukt. Doch es ist eine enorme Pracht, die die blinde Menschheit als Antwort auf ihre Situation produziert hat.

26 EIN GESPRÄCH ÜBER DIE DEUTSCHE NATION

INTERVIEWER: Ekkehart Rudolph ERSTSENDUNG: 03.10.1992, SDR DAUER: 39:38
INHALT: Ein Mensch allein ist ein asoziales Wesen und selbst eine Familie kann zu einem asozialen Kern degenerieren, weshalb es wichtig ist, an der Tradition, einer Sprache und Kultur, die einen prägt, Anteil zu haben. Dabei ist die Sprache das wichtigste Element, denn indem jemand einen deutschen Satz ausspricht, hat er gleichzeitig Anteil und wirkt verändernd auf eine zweitausendjährige Kultur.

27 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Finks Krieg

MODERATION: Christoph Heinemann INTERVIEWER: Volker Schwenck ERSTSENDUNG: 26.03.1996, SDR1 DAUER: 04:30
INHALT: Weil sich der Roman Finks Krieg an einem tatsächlichen Fall in der hessischen Landesregierung orientiert, löste schon der Vorabdruck einen Skandal aus. Walser aber hat keine Lust zu provozieren, sondern möchte friedlich schreiben dürfen. Andererseits kann er es sich nicht leisten, seine politische Existenz auszuschalten und so ist in seinen Romanen die deutsche Geschichte immer inklusive, weil seine alltäglichen Erfahrungen in den Schreibprozess mithineinspielen.

28 GESPRÄCH ÜBER DIE WIEDERVEREINIGUNG

INTERVIEWER: Wolf Scheller ERSTSENDUNG: 22.03.1997, SDR1 DAUER: 36:52
INHALT: Der Kapitalismus hat durch das Erlöschen des Kalten Kriegs seine letzte Legitimation verloren. Jetzt muss er sein Gegenteil aus sich selbst hervorbringen und kann nicht andauernd auf den Gegner verweisen und sagen: Weil er so ist, darf ich so sein. Es ist die Aufgabe der Intellektuellen, dahin zu wirken, dass der Kapitalismus sich nicht derart berechtigt fühlt, auf dem Globus immer weiter so zu wirken, wie er es tut. So zum Beispiel wenn gesagt wird, in Amerika wurden in den letzten Jahren viele Arbeitsplätze geschaffen, aber niemand erwähnt, dass man drei Jobs braucht, um sich überhaupt über Wasser zu halten.

29 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Ein springender Brunnen

INTERVIEWER: Jürgen Hoeren ERSTSENDUNG: 13.09.1998, SWR2 DAUER: 09:42
INHALT: Der Eintritt der Mutter in die Partei, so lautete ein Titel, der sich schon vor vielen Jahren in Walsers Notizbüchern findet. Mit der Partei ist die NSDAP gemeint. Von diesem Eintritt seiner Mutter erfuhr Walser erst nach 1945. Ob und wann man sich über solche persönlichen Geschichten äußert, muss jeder mit sich selbst abmachen, denn es ist abhängig davon, wie viel Vergangenheit jemand erträgt. Der Begriff Vergangenheitsbewältigung ist ein Unwort, da man die Vergangenheit nicht bewältigen kann.

30 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Der Lebenslauf der Liebe

INTERVIEWER: Uwe Kossack REDAKTION UND MODERATION: Anja Brockert ERSTSENDUNG: 18.08.2001, SWR2 DAUER: 14:55
INHALT: Die Tatsache, dass es eine Frau ist, aus deren Perspektive erzählt wird, hat Walser keine Probleme bereitet. Das Prosaschreiben muss eine unwillkürliche, unkommandierbare, sich von selbst vollziehende Tätigkeit sein, weshalb man weder eine Frau bewusst imitieren kann noch ein Kind. Aber wenn man lang genug mit einer Figur gelebt hat, schlüpft sie sowohl in einen wie man in sie hineinschlüpft. Man ist mit ihr allein und spielt das Ganze gemeinsam durch, so gut man es vermag. Die sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale werden dabei um so unwichtiger, je weiter es nach innen geht, innen drin, da wo etwas weh oder gut tut. Wo es extrem zugeht, gibt es Geschlechtsunterschiede nur im Anlass, aber nicht in der Empfindung.

31 GESPRÄCH ÜBER DEN ROMAN Ein liebender Mann

REGIE: Günter Maurer INTERVIEWER: Silke Arning ERSTSENDUNG: 24.10.2009, SWR2 DAUER: 11:48
INHALT: Walsers Roman ist eine Reflektion über den 74 Jahre alten Goethe, der sich noch einmal in eine 19jährige verliebt und die Liebe als das erlebt, was den Menschen verletzlich macht, sodass Walser sich fragt, ob Gottes erstes Gebot nicht hätte lauten müssen: Du sollst nicht lieben. Doch durch die Liebe hat sich der Schmerz gleichmäßig auf alle Menschen verteilt. Es ist ein Schmerz, der sich auch durch Literatur nicht überwinden lässt.


Track 25 enthält kurze Ausschnitte aus folgenden Büchern Martins Walsers: Die Verteidigung der Kindheit, Brandung, Wer ist ein Schriftsteller? sowie Jenseits der Liebe. Die Rechte © liegen beim Suhrkamp Verlag, Berlin. Auf Track 31 liest der Autor zwei Passagen aus Ein liebender Mann. Die Rechte © liegen beim Rowohlt Verlag, Reinbek.

© Produktionen des Südwestrundfunks 1969-2009
© Fotos SWR/Hugo Jehle, Peter Hollenbach
Redaktion: Uwe Kossack, SWR2 Literatur
Recherche: SWR-Archiv
Bookletredaktion: Frank Witzel