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Philosophie als Kulturkritik

Originalvorträge von Max Horkheimer

Autor: Max Horkheimer
Sprecher: Max Horkheimer
ca. 180 Minuten

Max Horkheimer * 14. Februar 1895 in Zuffenhausen bei Stuttgart, † 7. Juli 1973 in Nürnberg; war Sozialphilosoph und Mitbegründer des Instituts für Sozialforschung. Horkheimer gilt gemeinsam mit Adorno als Hauptvertreter der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie. Seine Arbeiten beschäftigen sich größtenteils mit der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Der von ihm konstatierte Verlust von Individualität und das Fehlen einer politischen Perspektive lassen ihn gegen Ende seines Lebens auf Schopenhauer zurückgreifen, dessen Pessismismus gegenüber der Welt Horkheimer mit einer beinahe theologischen „Sehnsucht nach dem ganz anderen“ verbindet. Sein bekanntestes Werk ist die zusammen mit Adorno verfasste „Dialektik der Aufklärung“ (1947 Amsterdam; 1969 Frankfurt), in der die Verfasser eine Antwort auf die Frage suchen „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“.

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CD 1 | Philosophie als Kulturkritik


Sendung: 03./10.01.1960, SWF Aufnahmeleitung: Simon Regie: Kleist Laufzeit: 58:30

Inhalt: Die Philosophie hat in den Gesellschaften der Nachkriegszeit einen schweren Stand. Während sie in den Diktaturen des Ostens bewusst gehandhabtes Instrument der Macht ist, muss sie in den aufstrebenden Industriegesellschaften ihre Nützlichkeit nachweisen und sich gleichzeitig gegenüber den Naturwissenschaften verteidigen. Dieser Rechtfertigung bedarf es, weil die aufhellende Kraft des philosophischen Gedankens gebrochen ist. Die Philosophie ist nicht länger Teil der zivilisatorischen Substanz. Sie wird als Hilfswissenschaft der Naturwissenschaften vereinnahmt, als Spezialwissenschaft mit einer auf sich selbst zugeschnittenen Verfahrensweise in einen Randbereich gedrängt oder lediglich als weiteres Konsumgut angesehen. Damit wird der Gegensatz von Idee und Realität, aus dem der freie Gedanke früher seine Kraft gewann, geleugnet. Vergessen wird zudem, dass die Philosophie in der europäischen Geschichte trotz ihrer faktischen Ohnmacht immer eine fortschrittliche und durch Kritik verbindende Wirkung ausgeübt hat. Geist ist im Wesentlichen Vermittlung und deshalb der Macht zu langsam und zu wenig ausgerichtet. Die Diktatoren im Osten kennen Geist nur als Schlauheit und Instrument der Indoktrination, während sich in der geistigen Regression Europas eine neue Barbarei ankündigt, in der Politik auf bloße Herrschaft zurückfällt. Der Lebensstandard wird gehoben, gleichzeitig wird Philosophie und jede nicht rein auf Beherrschung gerichtete Theorie neutralisiert und pervertiert. Geistiges, das nicht einem direkten Zweck dient, gehört in eine Sparte, für die kaum Kräfte bleiben. Die Sprache verkümmert durch geschäftliche Kommunikation, die den einzelnen zum Schweigen bringt. Der Aufstieg wird mit dem Verzicht auf geistige Emanzipation bezahlt. War früher der abergläubische oder abstrakte Gedanke problematisch, so ist es heute die Gedankenlosigkeit, das Sich-treiben-Lassen durch die Ökonomie. Die Macht der Philosophie und Kunst ist demgegenüber gering. Die bürgerlichen Werte werden nicht entfaltet, sondern ersetzt und gehen selbst in den Schichten zurück, in denen sie einst zu Hause waren. Die Menschen sind dabei nicht dümmer, doch weil sie wohlhabender sind, müssten sie klüger sein, damit die Gewalt nicht an ganz wenige zurückfällt und Geschichte nicht zu Naturgeschichte oder hoffnungslosem Mythos verkommt.

CD 2 | Was ist der Mensch ? - Zum Begriff des Menschen heute


Sendung: 10.10.1965, SDR Redaktion: Wissenschaft Laufzeit: 28:09

Inhalt: Zu den Fähigkeiten, die jeder als biologisches Wesen mitbringt, gehört die der Angleichung, der Mimesis. Gebärden und Gesten, der Tonfall der Stimme, die Eigenart des Ganges stellen im Kind als Echo des Ausdrucks geliebter Erwachsener sich ein. Die seelischen Reaktionen sind erworben, wenn nicht dem Inhalt, so der Form nach. Was man so leicht als seelische Erbmasse charakterisiert, geht auf Erfahrungen der Kinderjahre zurück. Der kennzeichnende soziale Typus von heute ist der Angestellte. Seine Beziehung zu den Kindern nähert sich der des älteren Kameraden zu dem jüngeren. Die Familie, die im 19. Jahrhundert eine lange und behütete Kindheit gewährte und im besten Fall Sicherheit und Orientierung, im schlechten Tyrannei und Ressentiment erzeugte, hat viele der ihr verbliebenen Aufgaben an andere Institutionen oder das allgemein gesellschaftliche Leben abgegeben. Dass der junge Mensch heute weniger belastet die Familie verlässt, wird mit dem Schwund der Innerlichkeit bezahlt. Mit dem Schrumpfen der Innerlichkeit schwindet auch die Freude an der eigenen Entscheidung, an Bildung und freier Phantasie. An diese Stelle tritt technische Geschicklichkeit, Lust an der Herrschaft über Apparaturen, das Bedürfnis nach Eingliederung und Übereinstimmung. Anweisungen, Rezepte, Leitbilder treten an die Stelle der moralischen Substanz.
Öffentliche wie menschliche Beziehungen sind eine Sparte für Experten geworden. Die ehemals vom gesellschaftlichen Bedürfnis getragene Bildung sinkt zu einer Art höherer seelischer Ausstattung und Hygiene herab. Sie kommt zwar einer größeren Mehrheit zugute, wechselt dabei aber ihre Funktion. In der Ehe soll die Beziehung zum Partner vor allem erfolgreich sein. Wenn die Ehe sich als schwierig erweist, kann sie gelöst werden. Jeder wird in gewissem Sinne austauschbar, was auf die Beziehungen der Geschlechter vor der Ehe zurückwirkt, die praktischer, uniformer und weniger schicksalhaft werden. Das Eindringen von Apparatur und Erwerb in die private Existenz beraubt der romantischen Liebe die historische Aktualität. Mädchen und junger Mann, aufeinander verwiesen durch das Geschlecht, stehen sich rationaler gegenüber. Die menschlichen Züge spiegeln die Änderungen der Gesellschaft wider, die noch nicht zum Frieden mit sich selbst gekommen ist. Je größer dabei die Macht der Menschen, desto stärker die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, dem Bestehenden und der Vernunft.

CD 2 | Die Zukunft der Ehe


Sendung: 31.03.1966, SDR Redaktion: Horst Krautkrämer Aufnahmeort: Frankfurt
Studio: Heidelberg Laufzeit: 33:09

Inhalt: Wie entscheidend die Gestalt der Ehe von gesellschaftlichen Zwecken abhängt, zeigt die russische Sozialgeschichte. In den ersten Jahren nach der Revolution galt nicht bloß kirchliche, sondern auch zivile Trauung als eine belanglose Formalität. Die Bedeutung der Ehe ging zurück, die Erziehung des Nachwuchses sollte dem Staat zufallen. Die Revolutionäre hatten sich jedoch getäuscht. Stalins so genannter „Sozialismus in einem Land“, der Verzicht auf das, was Marx und Lenin Kommunismus nannten, ließ bürgerliche Freiheit nicht mehr zu. Die freisinnige Auffassung der Ehe widersprach ihrer Funktion im total mobilisierten Staat. Autorität in der Familie selbst war wiederherzustellen. Familie und Ehe wurden unter der Kontrolle des totalen Staates erneut etabliert. Die in China bereits praktizierten und für den Westen noch bevorstehenden Prinzipien: Erhöhung des Kollektivs gegenüber der Person, Veränderung der menschlichen Beziehungen, üben zusammen mit einem Nützlichkeitsdenken keinen geringen Einfluss auf die Ehe aus. Durch die ökonomische Gleichstellung der Individuen erübrigt sich die Auseinandersetzung verschiedener politischer Gesinnungen immer mehr. Regierung wird zur umfassenden Verwaltung. Je geregelter die Gesellschaft, je sachlicher die menschlichen Beziehungen, desto romantischer die Hingabe an den Einzelnen. Gegen Ende der Periode individueller Konkurrenz erlischt die Aura der Person. Durch die geschäftige Personifizierung in den Massenmedien wird bestätigt, dass es mit der Person im eigentlichen Sinn zu Ende geht. Abnehmende Bedeutung der Freundschaft ist eine unmittelbare Konsequenz. Mit der Kollektivierung der Gesellschaft, die mehr und mehr das Leben aller regelt, wird der Spielraum eigenen Lebens in der Ehe immer enger. Je weniger die Eigenart des Einzelnen für die Gestaltung seines Lebens eine Rolle spielt, desto realistischer und nüchterner bildet sich das Denken. Wie lange ihre bürgerlichen Formen auch dauern mögen, das Bewusstsein der einzigartigen Bindung der Ehe ist im Vergehen begriffen. Wie die Existenz schlechthin tendiert auch die Ehe dazu rationeller, zweckbestimmter, nüchterner zu werden. Weder Liberalität noch Konformismus dienen der Ehe, da sich in beiden dasselbe bekundet: Entzauberung des Ephemeren, Einzigen, Unwiederbringlichen. Die Zukunft der Ehe aber wird durch eine Reduktion ihrer Funktion erkauft.

CD 2 | Zur Behandlung totalitärer Machthaber in den Massenmedien


Sendung: 14.04.1968, SDR Redaktion: Gerhard Rein, Kirchenfunk
Aufnahmeort: Lugano Laufzeit: 9:46

Inhalt: In vielen Ländern des nahen, mittleren und fernen Ostens, selbst im Westen sind Menschen an der Macht, die keine Menschen sind. Sie haben unzählige Morde an Unschuldigen organisiert, Befehle zu terroristischen Akten gegeben, Zehntausende hinrichten lassen. All diese Herren werden lächelnd und Hände schüttelnd mit anderen Politikern fotografiert, und kein Adjektiv verrät ihre Vergangenheit und die oft noch ähnliche Gegenwart. Sie essen nicht, sondern sie speisen, sie reisen nicht, sondern sie begeben sich, sie sind hohe Persönlichkeiten, ohne weiteren Zusatz. Den Lesern der Zeitungen, den Hörern des Rundfunks ist es schwer, wenn nicht unmöglich, Literatur zu finden, die den Taten der Terroristen einigen Raum gewährt. Es ist die Zeit gekommen all denen, die für Politik sich interessieren, über die Regierenden in vielen Ländern Bescheid zu sagen.

CD 3 | Karl Marx 1967, eine notwendige Aufklärung


Sendung: 20.11.1967, SDR Aufnahmeort: Lugano Laufzeit: 40:39

Inhalt: Geschichte ist anders gelaufen, als Marx dachte. Im Kapitalismus ist weder die Verelendung fortgeschritten, noch die Revolution eingetreten. Indem Marx den Gegensatz der Klassen als Wesen bürgerlich-kapitalistischer Wirtschaft proklamierte, hat er Liberalismus, die Überwindung der Krisen bei intakter Freiheit als Illusion denunziert und damit Aufklärung und die von ihr erstrebte Gesellschaft einander entgegengesetzt. Das Unvermögen des Liberalismus entspringt nach Marx nicht außerpolitischen Gründen. Die so genannte freie Wirtschaft führt auf Grund der eigenen Gesetzmäßigkeit in den Untergang. Reine Konkurrenzgesellschaft kann aus sich selbst heraus nicht überleben. Liberalismus in einem Land kann auf die Dauer genauso wenig bestehen wie Sozialismus in einem Land. Das eine wusste Kant, das andere Lenin. Nach den von Marx formulierten Gesetzen kapitalistischer Produktion wird immer größere wirtschaftliche Macht von immer weniger Gremien regiert. Das Kapital kann zu gewaltigen Massen in einer Hand anwachsen, weil es vielen einzelnen entzogen wird. Der Einzelne wird heute nicht mehr zum Selbstverfügenden Subjekt gebildet. Anders als Marx dachte, gewinnen Proletarier respektablen Lohn und relative Sicherheit, doch wird die bürgerliche Periode und ihr Beitrag zur menschlichen Substanz in ihrer Entwicklung übersprungen. Marx war trotz allem zuversichtlich, da mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten die Empörung der vereinzelten und organisierten Arbeiterklasse wachse. Er vertraute darauf, dass die Entfaltung des Subjekts trotz aller technisch-materiellen Perfektion schließlich zustande kommen würde. Die Automatisierung der Produktion und damit der Gesellschaft sah Marx als wichtige Etappe auf dem Weg zum Richtigen. Was historischer Materialismus heißt, ist bekannt. Seit Anfang war Geschichte durch den Mangel bestimmt. Die einen mussten befehlen, die anderen den Karren ziehen. Mit den langsam sich verbessernden Werkzeugen vermochten Stämme und Staaten ihren Unterhalt zu steigern. Aus dem Befehl wurde die Direktive und Anweisung. Das zur Herrschaft über die Natur befähigende Wissen war soweit gediehen, dass menschliche Ordnung nicht mehr durch die Leistung im Prozess der Produktion diktiert sein musste. Dass Marx sich im Hinblick auf den Zeitpunkt getäuscht hat, ist offenkundig. Es geht um ein Reich der Freiheit, in dem ein jeder seine Kräfte frei entfalten kann. Geschichte im Zeichen menschlicher Selbstbestimmung soll beginnen. Mögen die Versuche, das letzte Ziel zu bezeichnen, auch fragwürdig sein, sei es der ewige Frieden von Kant, sei es das Reich der Freiheit, es scheint offenkundig, dass Voraussetzung für eine menschenwürdige Gesellschaft in der ganzen Welt die Beseitigung der materiellen Not ist.

© Produktionen des Südwestrundfunks 1960/1965/1966/1967/1968/2008
Bookletredaktion: Frank Witzel
© Quartino GmbH, München 2008