PROGRAMM AUTOREN VERLAG KONTAKT

Über die Demokratie in Deutschland

Originalvorträge von Ralf Dahrendorf

Autor: Ralf Dahrendorf
Sprecher: Ralf Dahrendorf
ca. 350 Minuten

Ralf Gustav Dahrendorf, Baron Dahrendorf KBE, * 1. Mai 1929 in Hamburg, †18. Juni 2009 in Köln, war Soziologe, Politiker und Publizist. Dahrendorf war der Vordenker und Verfechter des Liberalismus, sowie Vertreter der Konfliktsoziologie. Der Titel seines Buches „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965) wurde zum geflügelten Wort.

ÜBER DIE DEMOKRATIE IN DEUTSCHLAND bei Amazon downloaden

CD 1 | Ralf Dahrendorf: Die Deutsche Frage


Sendung: 07.10.1965, SDR Laufzeit: 31:25

Inhalt: Während sich die meisten Länder mit Fragen der Bürgerrechte und der inneren Ordnung auseinandersetzen, bleibt die deutsche Frage immer noch eine nationale. Solche Fragen richten sich jedoch in erster Linie an andere und verlangen in der Regel die Konversion des Gegners. Geht man von einer liberalen Wertehaltung aus, so ist es die Aufgabe politischer Institutionen dafür Sorge zu tragen, dass kein einzelner Entwurf und keine einzelne Idee des Gerechten sich auf Kosten aller anderen zu etablieren vermag. Die Erklärungsversuche deutscher Geschichte reichen von Tacitus bis Hitler und erschöpfen sich darin, einen Einzigen für alles verantwortlich zu machen oder es einem vermeintlichen Volkscharakter zuzuschreiben. Dabei lässt sich der Begriff des Nationalcharakters nicht einfach abtun, allerdings ist er eine soziale Rolle, an die ein Komplex von Erwartungen gerichtet ist. Das bloß verstehende Wissen bleibt folgenlos, da es uns nicht anleitet, die Wiederkehr des Falschen zu vermeiden und das Richtige herbeizuführen.

CD 1 | Ralf Dahrendorf: Der Staatsbürger und die Klassen


Sendung: 14.10.1965, SDR Laufzeit: 30:32

Inhalt: Die Bildung und Ausbreitung der Charaktermaske des Staatsbürgers markiert einen historischen Wandel, denn sie erlaubt Entfaltung der eigenen Person und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Die eigenen Interessen werden auf den Markt der Politik getragen, so wie die eigenen Waren auf den Markt der Ökonomie. Gleiche Bürgerrechte betreffen allerdings immer nur die Chancen. Deshalb kann zwar das Minimaleinkommen ein Bürgerrecht sein, das gleiche Einkommen jedoch nicht. Man könnte den Sinn der Staatsbürgerschaft zugespitzt darin sehen, Ungleichheit zu ermöglichen, sofern diese nicht die Lebensgrundlagen des Einzelnen angreift. Ein Rechtsstaat ist jedoch noch keine liberale Demokratie. Das Vertrauen auf Regeln sagt noch nichts über den Inhalt dieser Regeln aus. Um zur Erfüllung der Bürgerrechte beizutragen, muss staatliche Sozialpolitik aus liberalen Prinzipien und nicht wohlfahrtsstaatlich konzipiert werden. Deutsche Sozialpolitik ist in der Bevormundung des Bürgers immer zu weit gegangen, gleichzeitig nicht weit genug in dem Respekt vor der zivilisierten Existenz.

CD 2 | Ralf Dahrendorf: Unmoderne Menschen in der modernen Welt


Sendung: 21.10.1965, SDR Laufzeit: 29:52

Inhalt: Beruf, Konfession und Schichtposition sind im Gegensatz zu früher, als sie zugeschrieben wurden, immer stärker erwerbbar. Im Anspruch auf gleiche Rechte und in der Forderung nach einer offenen Gesellschaft ist die Rolle des Staatsbürgers nur formell entwickelt, weil von den Rechten kein Gebrauch gemacht werden kann. Die deutsche Gesellschaft kennt in ihrer Schichtstruktur drei Barrieren: 1. Die Grenze zwischen den Eliten und den angrenzenden Bereichen der Mittelklasse, 2. Die Grenze zwischen der Unterschicht und den angrenzenden unteren Rängen der Unterschicht und des falschen Mittelstandes, 3. Die Grenze, die das obere Drittel des Schichtgebäudes von den unteren zwei Dritteln trennt. Innerhalb dieser Schichten ist soziale Mobilität möglich, jedoch kaum über die Barrieren hinweg. Diese Trennung wird durch Ideologien der nationalen Zusammengehörigkeit kompensiert. Formelle Chancen und Rechte werden nicht wahrgenommen, weil überlieferte Bindungen die Menschen daran hindern. Der Staatsbürger hat erst einen Fuß auf die Schwelle der deutschen Gesellschaft gesetzt und gehört deshalb noch nicht vollständig zu ihr.

CD 2 | Ralf Dahrendorf: Konflikt und Freiheit


Sendung: 28.10.1965 , SDR Laufzeit: 30:05

Inhalt: Im Gegensatz zum Rechtssystem in England ist der deutsche Richter kein Schiedsrichter, sondern eher ein Spielermanager, der immer auf der Seite der Gewinner steht. Auch die Rolle des Staatsanwaltes, der be- und entlastende Umstände ermitteln soll, ist im deutschen Verfahren zentral. Da die Wahrheit schon vorher herausgefunden wird, verliert der Prozess selbst an Bedeutung. Der Angeklagte erscheint vor dem Richter als schuldig. Der Staatsanwalt schlüpft bei Prozessbeginn aus der Rolle des unparteiischen Ermittlers in die des parteiischen Anklägers. Das Strafverfahren ist Metapher für einen charakteristischen Zug deutscher Sozialstruktur: Wo immer Interessen aufeinanderprallen, besteht die Tendenz, autoritative und inhaltliche statt vorläufiger und formaler Lösungen zu suchen. Viele Institutionen sind heute noch so konstituiert, als könnte irgendeine Gruppe für die objektive Welt stehen. Konflikte werden nicht geregelt, sondern gelöst. Ein Strafverfahren ist ein Interessenskonflikt, im deutschen Strafprozess wird der Schuldbeweis jedoch schon vor dem Prozess erledigt. Eine Situation, die sich als Konflikt verstehen würde, wird somit in eine Suche nach Wahrheit verwandelt. An die Stelle von Debatte und Auseinandersetzung tritt eine Einrichtung, die endgültige Antworten geben soll. Es geht jedoch um die Errichtung von Institutionen, die den gegensätzlichen Gruppen verbindliche Formen des Ausdrucks bieten, und um die Entwicklung von Spielregeln, an die sich die Konfliktparteien halten können, ohne dass eine bevorzugt würde.

CD 3 | Ralf Dahrendorf: Der Mythos des Staates


Sendung: 04.11.1965, SDR Laufzeit: 31:04

Inhalt: Die Hegelsche Gestalt des Staates hat bis heute das Gesicht des Staates geprägt. Ihm kommen vor allem Rechte, seinen Mitgliedern vor allem Pflichten zu. Die Verfassung des Kaiserreichs könnte als angewandter Hegel interpretiert werden: Der Reichstag, die Schwatzbude, symbolisiert die bürgerliche Gesellschaft und deren Interessen und Kämpfe, darunter liegt die Unmündigkeit der Familie und darüber erst beginnt der Staat in seiner Majestät. Verglichen mit der Weimarer Republik scheint die Regierung in der Bundesrepublik fest etabliert. Von 1951 bis 1961 stieg die Befürwortung des Mehrparteiensystems stetig von 61 auf 73 Prozent. Dennoch befürworteten im Oktober 1961 28 Prozent eine Allparteienkoalition, weitere 23 Prozent eine Große Koalition. Die Große Koalition hebt den Parteienstreit als Instrument demokratischer Regierung jedoch ebenso auf wie die Schaffung einer überparteilichen Autorität. Überparteilich gilt als sehr schmückendes Beiwort in Deutschland. Gemeinschaftsaufgaben ersetzen Parteiprogramme, Wahlkampf wird durch Stillhalteabkommen entschärft. Für die Verfassung der Freiheit ist die Herrschaft des Rechtes allerdings weniger wichtig als die Lebendigkeit des Konfliktes. Die Verherrlichung der deutschen Nation ist ein Zeugnis der Sehnsucht nach Synthese. Gleichzeitig haben die Erfordernisse der Nation, die Ideologie des permanenten Notstands, immer wieder in der deutschen Geschichte dazu herhalten müssen, die unmittelbaren Lebensfragen der Menschen zu suspendieren.

CD 3 | Ralf Dahrendorf: Wandlungen der deutschen Elite


Sendung: 11.11.1965, SDR Laufzeit: 29:31

Inhalt: Die Geschichte kennt keine politische Klasse, die den Besitzstand an Herrschaft freiwillig abgetreten hätte. Immer gehören zur Herrschaft auch Ideologien der Legitimität, Instrumente der Vernebelung, die vom göttlichen Auftrag bis zur direkten Repression reichen. Demokratie setzt die Konkurrenz sozialer Kräfte voraus. Doch die Revolution von 1918 war lediglich eine Neuformierung der Elitegruppen, da in vielen Bereichen die alten Herren in Spitzenpositionen blieben, während die Positionen selbst in gewandelten Strukturzusammenhängen erschienen. Die Verwaltungseliten überlebten die Revolution ungebrochen, doch das überschaubare Bild der Elite und ihr Monopol waren zerbrochen. Eine Zeitbombe, die 1933 explodierte. Damals entstand eine Mesalliance aus zwei Gruppen, den alten Herren des Kaiserreiches, Beamten, Adel und Militär auf der einen, den Kleinbürgern auf der anderen Seite. Eine wirkliche Wandlung der Elite fand erst nach 1945 statt, da der Rückgriff auf alte Monopolansprüche unmöglich wurde. Heute existiert eine administrative und eine wirtschaftliche Elite. Obwohl alte Monopole zerbrachen und die Bedeutung des Adels schwindet, bilden sich Elitegruppen von 1918 bis heute bevorzugt aus mittleren und höheren Dienstklassen und der Mittelschicht. Darüber hinaus weisen sie ein außerordentliches Maß an Selbstrekrutierung auf. Die Elite gibt damit immer noch nicht der konkurrierenden Vielfalt sozialer Strömung Ausdruck und ist damit auch nicht Träger einer liberalen Demokratie.

CD 4 | Ralf Dahrendorf: Wer regiert Deutschland?


Sendung: 18.11.1965, SDR Laufzeit: 30:04

Inhalt: Der Platz an der Spitze der Gesellschaft scheint leer. Eine Oberschicht scheint nicht mehr vorhanden. Es gibt in der deutschen Gesellschaft die Spitzenpositionen der verschiedenen institutionellen Bereiche, zu deren Aufgaben es gehört, Entscheidungen zu treffen. Elite oder Oberschicht existiert jedoch auch als soziale Kategorie. Nicht die Existenz der deutschen Machtelite steht in Frage, sondern vielmehr ihre Eigenart. Die Auflösung des Monopols hat zwar zur Vielfalt, jedoch nicht zur Konkurrenz geführt, denn an deren Stelle trat das Kartell. Das Kartell der Eliten bedeutet ein Stillhalteabkommen. Dazu ist es Resultat der durchgehend defensiven Haltung seiner Mitglieder. Die deutschen Führungsgruppen sind eines Tages erschrocken zu der Einsicht erwacht, dass sie nun an der Spitze stehen und niemanden mehr über sich haben. Der Schreck war stärker als das Selbstbewusstsein, denn sie waren auf ihre Stellung nicht vorbereitet. Deshalb beschlossen sie, die daraus abzuleitenden Ansprüche nicht zu erheben, sondern sich in ihren eigenen Bereich zurückzuziehen. Das Monopol der Tradition wurde durch ein Kartell der Angst abgelöst. Alle Veränderungen der sozialen Struktur treten hinter der Sorge um das prekäre Gleichgewicht der Kräfte zurück. Das Kartell der Eliten macht eine Politik der radikalen Durchsetzung staatsbürgerlicher Gleichheit unmöglich. Es handelt sich um einen unbeabsichtigten Autoritarismus, bei dem die Stagnation als Stabilität erscheint, bis sie in unerwünschte Richtungen hin explodiert. Niemand regiert Deutschland, Deutschland wird regiert. Das Kartell der Eliten ist keine geeignete soziale Basis für die Verfassung der Freiheit, denn so liberal die einzelnen Eliten auch sein mögen, so illiberal ist die Wirkung ihres Stillhalteabkommens.


CD 4 | Ralf Dahrendorf: Deutsche Intellektuelle, Politik und Status


Sendung: 25.11.1965, SDR Laufzeit: 30:21

Inhalt: Die deutsche Gesellschaft ist offenbar seit 100 Jahren unabhängig von ihrer politischen Verfassung so beschaffen, dass sie diejenigen in sich nicht dulden konnte, die sich verbal von ihr distanzierten und nicht nach Wegen suchten, diese Distanz sogleich wieder aufzuheben. Wer diese Gesellschaft anzweifelt, stellt jedoch Fragen aus ihr heraus. Ihm zerrinnt jeder Halt an dieser Gesellschaft. Es überwiegen vor allem drei Haltungen der Intellektuellen, die jedoch alle gleichermaßen der Stabilisierung bestehender Herrschaftsverhältnisse dienen. Der Intellektuelle klassischer Haltung benutzt seine Distanz, um in eleganter Schleife zu dem zurückzukehren, von dem er sich zuvor absetzte. Der Romantiker fragt: Was kümmert mich der Schiffbruch dieser Welt?, und verzichtet im Weiteren auf eine Stellungnahme. Während der Intellektuelle, der die innere Emigration vorzieht und sich in das Gehäuse der Eigentlichkeit zurückzieht, die Möglichkeit des Handelns von sich weist. Daneben gibt es jedoch auch den kritischen Intellektuellen, der mit vielen, oft sogar allen selbstverständlichen Bindungen gebrochen hat. Bildungswesen, künstlerische Einrichtung und die Medien sind Heimat der Intellektuellen. Doch das Bildungswesen ist staatlich, künstlerische Einrichtungen sind vor allem öffentlich oder imitieren deren Muster, wichtige Massenmedien sind es ebenfalls. Unter solchen Umständen fällt die freie Distanz schwer. Der geregelte Alltag dringt dabei in die Gedankenwelt der Intellektuellen ein. Wenn die Intellektuellen nicht als Stachel wirken und jede Form von Herrschaft sowie jeden Inhalt politischer Entscheidung mit Zweifel begleiten, sondern die Herrschenden entweder umklammern oder sich ganz von ihnen trennen, dann muss man von einer nichtdemokratischen Intelligenz sprechen. Die deutschen Intellektuellen sind damit gewiss Symptom, vielleicht sogar Symbol der deutschen Gesellschaftsstruktur.

CD 5 | Ralf Dahrendorf: Die öffentlichen und die privaten Tugenden


Sendung: 02.12.1965, SDR Laufzeit: 28:49

Inhalt: Kennzeichnend für die öffentlichen Tugenden sind die Regeln und Werte des Sports. Die eigene Person tritt zurück, wichtig ist das Auskommen mit anderen. Reibungslose Beziehungen sind gleichzeitig auch entlastet. Dabei wohnt den öffentlichen Tugenden ein starkes Element des Vertraglichen inne, Paragraphen des Gesellschaftsvertrags werden für alle Lebensbereiche kopiert. Private Tugenden sind hingegen keine Tugenden der Teilnahme, weshalb die Vorherrschaft privater Tugenden ein Instrument autoritärer Herrschaft ist. In der deutschen Gesellschaft haben immer private Tugenden dominiert. Wo private Tugenden vorherrschen, muss Öffentlichkeit unterentwickelt bleiben. Der missliche Zustand öffentlicher Dinge belastet die Menschen nicht, weil er ihre ganz auf Privatheit gestellten Werte nicht berührt. Öffentliche Tugenden bedeuten Respekt vor dem anderen und seiner Sphäre. Spielregeln schützen gegen den Spielverderber. Gerade dass sie formal bleiben, macht die öffentlichen Tugenden zu einer Bedingung der Möglichkeit der Freiheit.

CD 5 |Ralf Dahrendorf: In der pädagogischen Provinz


Sendung: 09.12.1965, SDR Laufzeit: 28:03

Inhalt: In der Familie werden vor allem private, in der Schule vor allem öffentliche Tugenden vermittelt. Da in Deutschland die privaten Tugenden den Vorrang haben, wird die Familie der Schule vorgeordnet. Eine Vorschule erscheint als Verletzung der Familienrechte, die Ganztagsschule als Störung des Familienlebens. Ein Drittel aller Deutschen meint, der Staat solle bei der Erziehung der Kinder nicht mitwirken. Die Familie ist das Refugium des Privaten und bleibt von der bürgerlichen Gesellschaft unberührt. Eingeklemmt zwischen Familie und Erwerbsleben versieht die Schule vor allem subsidiäre Aufgaben und verzichtet auf die Erziehung der Kinder, sie überlässt sie sich selbst und schreibt noch ihre gröbsten Misserfolge den Kindern oder deren Eltern zu. Dreiviertel aller Sextaner kommen nicht zum Abitur. Das liegt am pädagogischen Defätismus der deutschen Schule. Das Elternhaus kann erzieherisch versagen, die Schule kann es nicht, weil sie in dieser Hinsicht erst gar nicht Erfolg zu haben versucht. Die Schule ist eine abstrakte Welt, die das, was sich bilden und prägen ließe, als vorgegeben hinnimmt: die Eignung und Begabung des Kindes. Das Ideal der höheren Ausbildung wird in Deutschland immer noch jenseits des Gesellschaftlichen gesucht. Bildung ist nicht Erziehung und auch nicht Ausbildung, was unter der Würde der höheren Schule liegt, deren Prestige mit der Distanz zur Realität wächst.

CD 6 | Ralf Dahrendorf: Der unpolitische Deutsche


Sendung: 16.12.1965, SDR Laufzeit: 28:06

Inhalt: Autoritäre Herrschaft verbindet die Vormacht einer exklusiven Führungsschicht mit der Nicht-Teilnahme der Vielen. Sie ist die politische Form der Unmündigkeit und damit zugleich leichter zu ertragen und schwerer zu erschüttern als totalitäre Herrschaft. Das politische Verhalten ist in die Sozialpersönlichkeit nicht integriert, sondern ihr angeklebt und unterliegt damit unberechenbaren Schwankungen. Der Lebensbereich des Politischen bleibt dem Menschen äußerlich. Der Bereich unterhalb des rituellen Aktes der Wahlbeteiligung bleibt leer. Die politische Sozialisierung des Deutschen ist unvollständig. Die demokratischen Institutionen werden akzeptiert, aber sie bleiben dem Leben fern. Das demokratische Verhalten ist staatsbürgerliche Pflicht. Kratzt man an diesem Ritualismus, erscheint Orientierungslosigkeit oder eine der vielen Spielarten des aktiven oder passiven Autoritarismus. Es ist kein böswilliger Autoritarismus, sondern ein Autoritarismus wider Willen, eine Konsequenz des Desengagements. Wenn er nicht durch autoritäre Strukturen oder Eliten aktiviert wird, kann er lange schlafen und sogar entschlummern, denn es ist nicht auszuschließen, dass das Aufgesetzte endlich anwächst und die rituelle Anpassung zur vollendeten Anpassung wird.

CD 6 | Ralf Dahrendorf: Deutsche Antworten


Sendung: 23.12.1965, SDR

Inhalt: Der Eintritt der Modernität erwies sich für die Betroffenen überall als schmerzhaft. Er verlangte Revolutionen und Entwurzelung, Unsicherheit und menschliche Opfer und scheint nirgendwo dem spontanen Wunsch der Menschen entsprochen zu haben. Er wurde zuerst erzwungen und fand nachher die Zustimmung der aus den Ketten der Unmündigkeit Befreiten. In Deutschland hat der Nationalsozialismus der Entwicklung zur Moderne einen nachhaltigen Stoß versetzt. Hitler konnte seine Macht nur durch die Entkräftung der parlamentarisch-demokratischen Verfahrensweisen begründen und erhalten. Die totale Macht setzte die Zerstörung der Macht aller partiellen Institutionen voraus. Dabei mussten die Nationalsozialisten die überlieferten und in ihrer Wirkung antiliberalen Loyalitäten zu Region und Religion, zu Familie und Korporation zerbrechen. Hitler brauchte die Modernität, so wenig er sie mochte. Wie zweideutig die Modernität ist, zeigen ihre deutschen Begründer damit zu Genüge. Der Volksgenosse verbietet die Rückkehr des Untertanen, darin liegt sein spezifisch modernes Gesicht. Doch kann ihm sowohl der Sozialbürger als auch der Genosse folgen.

CD 6 | Dahrendorf/Dutschke: Die wilden 60er Jahre in der Provinz


Sendung: 29.06.1998

Inhalt: Die wilden 60er Jahre in der Provinz. Rudi Dutschke und Ralf Dahrendorf in Freiburg am 19. Januar 1968. Impressionen von einer Kundgebung am Rande des FDP-Parteitags, bei der sich Dahrendorf und Dutschke zu einem Schlagabtausch treffen.


© Produktionen des Südwestrundfunks 1965/1968/2008
Bookletredaktion: Frank Witzel
© Quartino GmbH, München 2008