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Unser Körper

Naturzwang oder Designobjekt?

Autor: Interviewpartner: Gerold Baier, Simon Baron-Cohen, Cornelius Börner, Helmut Digel, Marcus Düwel, Klaus Dörner, Wolfgang Eckart, Tiffany Field, Nikolaus Freudenberg, Hartmut Gabler, Volker Jung
Sprecher: Doris Wolters, Wolfgang Condrus, Hubertus Gertzen, Wolfgang Klar, Jo Jung
ca. 328 Minuten

Wie sind wir getaktet? Welches Bild hat eine Prostituierte
von sich? Tai Chi, Chi Gong oder Yoga – hilft uns das?
Kann uns die Chirurgie einen idealen Körper verschaffen?
Fremdkörper, Gesundheit, Sex, unser Hirn auf einer Festplatte
und vieles mehr! Lernen Sie sich besser kennen!

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CD 1:


1 | Das menschliche Maß
Verdichtet man die viereinhalb Milliarden Jahre Erdgeschichte auf 12 Stunden, so erscheint der Mensch in der letzten Minute und wird erst in der allerletzten Sekunde zu einem Kulturwesen, das Werkzeuge benutzt und die Errungenschaften unserer Zivilisation entwickelt. Doch der Mensch verändert nicht nur seine Umwelt, sondern ist selbst auch Veränderungen unterworfen: Schnauze, Überaugenwülste und Gebiss bilden sich zurück, während der Kehlkopf durch die aufrechte Haltung nach unten sinkt und eine differenziertere Lautgebung ermöglicht. Und abgeschlossen ist die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Körpers noch längst nicht, denn das ständige Sitzen bereitet schon die nächsten Veränderungen in unserem Körperbau vor.

2 | Körperrhythmen
Der menschliche Körper ist einer Vielzahl von Rhythmen unterworfen, die er beständig koordinieren muss. Nicht nur Herzschlag und Atmung bestimmen unser Leben, vielmehr pulsiert jedes Organ, jede Nervenleitung, jede Zelle nach einem ureigenen Takt. Mit unserer Wahrnehmung sieht es nicht viel anders aus: Folgen Bilder in einer bestimmten Frequenz aufeinander, meinen wir eine Bewegung auszumachen, und das, was wir ungenau als Augenblick bezeichnen, ist in Wirklichkeit genau drei Sekunden lang, eine sinnbildende Zeiteinheit, die, ohne dass wir uns dessen bewusst wären, auch unsere Sprache gliedert. Doch auch von außen wirken im Tages- und Jahresverlauf strukturierende Kräfte auf uns ein, die zusammen mit den in uns tätigen Rhythmen der Frage nach Individualität und Identität eine neue Dimension abgewinnen.

CD 2:


3 | Körperbilder
Auf den ersten Blick scheint es kaum unterschiedlichere Körperbilder zu geben als die eines Selbstmordattentäters, einer Prostituierten und eines Pathologen: Für den Selbstmordattentäter ist der Körper eine Waffe, für die Prostituierte eine Ware, für den Pathologen eine Ansammlung kranker Zellen.
Bei genauerem Betrachten werden jedoch Gemeinsamkeiten erkennbar und es stellt sich die Frage, ob wir überhaupt davon ausgehen können, einen Körper zu besitzen, da zum Besitz auch immer der Vorgang des Erwerbs gehört, wir jedoch schon immer auch unser Körper selbst sind. Inwieweit sind wir also in der Lage, den eigenen Körper von unseren Gefühlen und Bedürfnissen zu trennen, um ihn einer Idee und Funktion unterzuordnen oder gar zu opfern, und was sind die Mechanismen, die uns zu einer solchen Spaltung befähigen?


4 | Haltungen
Die Körperhaltung, obwohl scheinbar eine individuelle Angelegenheit, spielt in unserer Gesellschaft eine immer größere Rolle: Bereits ein Drittel aller Vorschulkinder zeigt Ansätze zu Haltungsschäden, während bei Erwachsenen Rückenschäden an erster Stelle der Gründe für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung rangieren. Was im Osten schon seit Jahrhunderten als haltungsverbessernde und die Lebenserwartung verlängernde Geheimlehren entwickelt wurde, ersetzt als Tai Chi, Quigong oder Yoga auch im Westen immer mehr die traditionelle Rückenschule, deren fördernde Wirkung auf Skelett und Muskulatur umstritten ist. Im Umgang mit der Körperhaltung ist jedoch vor allem Fantasie gefragt, sodass Traumreisen, Schauspielübungen, mentales Training und Imaginationsübungen die praktischen Übungen ergänzen und vertiefen.

CD 3:


5 | Körper-Grenzen
Spitzensport hat nichts mit Gesundheitsvorsorge zu tun. Im Gegenteil, um als Leistungssportler Erfolg zu haben, müssen gesundheitliche Beeinträchtigungen und Verletzungen in Kauf genommen werden. Auch mit dem reinen Muskelaufbau ist es nicht getan, da das Herz dazu gebracht werden muss, mehr Sauerstoff aufzunehmen und umzusetzen. Gleichzeitig steigert der Spitzensportler seine Toleranz gegenüber schmerzhaften Begleiterscheinungen und wird dafür mit dem Ausstoß von Endorphinen belohnt, dem Morphium verwandte Stoffe, die unter anderem zu dem bekannten Runner’s High führen, das Marathonläufer etwa während der letzten Kilometer erleben. Doch nicht nur ideelle Werte treiben den Leistungssportler dazu, diese Strapazen auf sich zu nehmen, sodass die Aussichten auf Ruhm und Reichtum auch die früher streng gewahrten Grenzen zwischen Profi und Amateur immer mehr verwischen lassen.

6 | Körper-Design
Zwei Drittel der deutschen Männer hat Übergewicht. Nur ein Prozent der deutschen Frauen gibt an, mit ihrer Figur zufrieden zu sein. Die allein in der virtuellen Welt der Computerspiele existierende Lara Croft wird von der Zeitschrift Emma als „positive weibliche Identifikationsfigur“ dargestellt. Unseren Vorstellungen von einem idealen Körper geht nicht eine Vervollkommnung, sondern im Gegenteil eine Fragmentierung des Körperbildes voraus. Die im Film mittlerweile zum Alltag gehörenden Body-Doubles, die verschiedene Körperteile der Stars ersetzen, haben zusätzlich der Vorstellung den Weg geebnet, den eigenen Körper aus vielerlei Teilen zusammensetzen und so perfektionieren zu können. Der scheinbar unproblematische Einsatz der plastischen Chirurgie wirft die Frage auf, ob die Gestaltungsmöglichkeiten am eigenen Körper schon bei Frisur und Kleidung enden.

CD 4:


7 | Leben mit Fremd-Körpern
Organverpflanzungen, künstliche Gelenke, Xenotransplantation (die Übertragung tierischer Organe auf den Menschen): Die Möglichkeiten, den Menschen nicht mehr allein seinem körperlichen Schicksal zu überlassen, steigen von Jahr zu Jahr. Die Verpflanzung von Herz und Lunge ist mittlerweile schon Routine und auch Leber, Niere, Magen und Darm werden inzwischen problemlos ausgetauscht. Doch gerade weil die Kriterien für eine Transplantation immer leichter zu erfüllen sind, fehlt es an Spenderorganen. Die Medizin sucht Auswege in der Lebendspende, wie etwa bei der Niere, dem Organsplitting, bei dem zwei Patienten sich zum Beispiel eine Leber teilen, oder in den noch unausgereiften Versuchen, aus Stammzellen komplette Organe zu züchten. Denn so ausgereift viele Prothesen auch mittlerweile sein mögen, sie bleiben dem lebendigen Organ durch eingeschränkte Funktionsweise und Haltbarkeit noch immer unterlegen.

8 | Gesund Sein
Die abstrakte Vorstellung von einem Zustand der permanenten Gesundheit hat sich erst in den letzten zweihundert Jahren entwickelt und das Wissen um die Einheit von Gesundheit und Krankheit abgelöst. Dabei durchziehen die Prozesse von Gesundheit und Krankheit in ständiger Wechselwirkung unseren Lebenslauf und sind wichtig für unsere Entwicklung. Der Philosoph Gadamer, der selbst hundert Jahre alt wurde, erkannte im Zustand der Gesundheit vor allem die Selbstvergessenheit, die den Menschen einfach am Leben teilnehmen lässt, ohne sich seines Körpers bewusst zu sein, während Friedrich Nietzsche Gesundheit als diejenige Form der Krankheit bezeichnete, die einen das, was einem wichtig ist, noch gut vollbringen lässt. Gleichzeitig gilt die Gesundheitsindustrie als eine der größten Wachstumsbranchen des 21. Jahrhunderts, in der 4,5 Millionen Menschen ihre Arbeit finden, eine Arbeit, welche die Krankheiten anderer zum Inhalt hat.

CD 5:


9 | Mann und Frau
Auch wenn die Unisex-Produkte auf dem Modesektor zunehmen und Frauen bislang für Männer vorbehaltene Sportarten wie etwa das Boxen erobern und zeigen, dass auch sie Siegeswillen und Aggressionspotenzial besitzen, scheinen die Geschlechterrollen nach wie vor in festen Gleisen zu verlaufen. Das traditionelle Rollenverhalten durch Erziehung aufzubrechen ist bislang nicht geglückt, sodass Frauen, die Erfolg haben wollen, sich weiter männlichen Normen anpassen müssen. Dabei sind die biologischen Festschreibungen nicht unmittelbar an das Geschlecht gekoppelt, denn die Unterscheidung in zwei Gehirntypen, den systemischen und den empathischen, besagt lediglich, dass es unterschiedliche Anlagen gibt, auch wenn bislang der systemische Typ vor allem bei Männern, der empathische vor allem bei Frauen vorkommt.

10 | Hunger nach Berührung
Die Haut eines Erwachsenen hat eine Fläche von ungefähr 2 Quadratmetern und wiegt 9 Pfund. Sie ist damit nicht nur das größte Organ, sondern mit ihren Abermillionen Nervenenden auch das größte Sinnesorgan des Menschen. Dabei spielt Berührung nicht allein für das allgemeine körperliche und seelische Wohlbefinden eine große Rolle, sondern ist vor allem für die Entwicklung des Kleinkindes entscheidend. Untersuchungen an Makaken-Affen zeigten, dass fehlende Berührung zu einer körperlichen Unterentwicklung und zu verstärkt aggressivem und apathischem Verhalten führt. Eine Erkenntnis, die man mittlerweile auch bei der Behandlung Frühgeborener einsetzt. Frühchen, die massiert werden, nehmen wesentlich schneller an Gewicht zu und können früher aus dem Krankenhaus entlassen werden, da der einmal erfahrene Hautkontakt auch ihre weitere Entwicklung positiv unterstützt.

CD 6:


11 | Körper als Rohstoff
Der Begriff „seine Haut zu Markte tragen“ bekommt in Zeiten der Stammzellforschung einen ganz neuen Sinn. Tumorgewebe, Ei und Samenzellen, die von der Wissenschaft zur Forschung benötigt werden, besitzen mittlerweile einen gewissen Marktwert. Und nicht ohne Grund soll in der Europäischen Verfassung die Nichtkommerzialisierbarkeit des Körpers ausdrücklich festgeschrieben werden. Auch wenn das menschliche Genom inzwischen entziffert ist, bleibt ein riesiges unerforschtes Areal, das der Krankheiten, die in der Regel aus der Wechselwirkung verschiedener Gene entstehen. Um diesen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, werden überall auf der Welt in so genannten Biobanken genetische Profile und Gewebeproben gesammelt. Allen voran in Estland, einem Land, das über wenig Bodenschätze und kaum Industrie verfügt und auf diese Weise hofft, Forschergruppen aus dem Ausland anzulocken.

12 |Körperlos
Noch immer existiert die Vorstellung, aus dem Menschen etwas herausfiltern zu können, das für sein Denken oder Fühlen verantwortlich ist, eine Instanz, die nach dem körperlichen Ableben erhalten und rekonstruiert oder mithilfe von Computern künstlich hergestellt werden kann. Doch die Wissenschaft muss immer mehr feststellen, dass Intelligenz und Emotionen auf den Körper bezogen sind und den Körper sogar als Voraussetzung ihres Existierens benötigen. Rechner und Roboter repräsentieren immer nur die Erfahrungen ihrer Konstrukteure, sind jedoch nicht in der Lage, eigene Erfahrungen zu machen und diese entsprechend zu verwerten. Um echtes Denken zu entwickeln, muss das entsprechende Organ in die Prozesse von Werden und Vergehen miteingebunden werden. Es würde damit sterblich wie der Mensch, wäre diesem aber damit nicht länger überlegen.

Sprecher: Doris Wolters, Wolfgang Condrus, Hubertus Gertzen, Wolfgang Klar, Jo Jung
Technik: Rolf Knapp, Karl-Heinz Runde, Beate Müller
Regie: Günter Maurer
Redaktion: Detlef Clas

Die Interviewpartner:
Gerold Baier, Chronobiologe, Mexiko Simon Baron-Cohen, Psychologe, Großbritannien Cornelius Börner, Design-Manager WMF Helmut Digel, Sportwissenschaftler, Universität Tübingen Marcus Düwel, Ethiker, Universität Utrecht Klaus Dörner, Psychiater und Historiker Wolfgang Eckart, Medizinhistoriker, Heidelberg Tiffany Field, Psychiaterin, Universität von Miami, Florida Nikolaus Freudenberg, Pathologe, Freiburg Hartmut Gabler, Sportpsychologe Volker Jung, Kampfkunsttrainer Annelie Keil, Gesundheitswissenschaftlerin, Bremen Wilfried Kindermann, Institut für Sport- und Präventiv-Medizin, Saarbrücken Gertrud Koch, Filmwissenschaftlerin, FU Berlin Manfred Lütz, Psychiater Steven Mithen, Archäologe, Reading Wolfgang Mühlich, Architekt, Fachhochschule Biberach Adalbert Olschewsky Hattenhauer, Rückenschule, Heidelberg Ernst Pöppel, Institut für Psychologie, München Sabine Rittner, Tranceforscherin, Institut für medizinische Psychologie, Heidelberg Friedrich Rösing, Anthropologe, Ulm Gerhard Roth, Neurobiologe, Bremen Ingrid Schneider, Politologin, Universität Hamburg Arnim von Stutterheim, Reproduktionsmediziner Axel Ullrich, Direktor des Max Planck Instituts für Biochemie Edgar Wagner, Chronobiologe, Universität Freiburg Kevin Warwick, Kybernetiker, Reading Ulrich Witzel, Biomechaniker, Ruhr-Universität Bochum

© Produktionen des Südwestrundfunks 2004/2008
Bookletredaktion: Frank Witzel
© Quartino GmbH, München 2008